Archiv für den Monat: Juni 2009

Teure Passverschwörung

Pässe haben eine sehr ungute Eigenschaft. Sie laufen überraschend ab. Und zwar immer zum ultimativ-ungünstigsten Zeitpunkt. Jahrelang liegen Reisepässe faul in irgendwelchen Schubladen oder Dosen herum und machen sich einen Lenz. Aber dann, wenn man sie endlich braucht und hervorholt, sind sie garantiert abgelaufen. Schon lange glaube ich, dass es eine heimliche Verschwörung von deutschen Passausstellungsbeamten gibt, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, möglichst viele Menschen in eine temporär passlose Verzweiflung zu treiben.
Ich jedoch war anfangs zweifelsfrei sicher, dass mein Reisepass noch gültig ist (was nicht ganz unwichtig ist, wenn man vorhat, Mitte Juli nach Amerika zu fliegen). Irgendetwas jedoch läutete ständig in meinem Hinterkopf – wahrscheinlich auch deswegen, weil mich schon einmal in London ein British Airways Kontrolleur nicht auf einen US-Flug ließ (was zudem beweist, dass es eine internationale Verschwörung ist).
Es war dann nicht so schlimm, herauszufinden, dass mein Pass bereits im Februar abgelaufen war. Aber es steigert die Spannung schon etwas, wenn man 3 Wochen vor Abflug erfährt, dass es 3-4 Wochen dauert, bis ein neuer Pass ausgestellt ist.


Neon: „Guten Tag. Ich fliege Mitte Juli nach New York und habe eben gemerkt, dass mein Reisepass im Februar abgelaufen ist“.
Bürgerbürobeamtin: (wahrscheinlich Kopf der Verschwörung) „Da haben Sie ein Problem!“.
Neon: „Ja danke, dessen bin ich mir bewusst. Ich brauche also schnell einen neuen Pass!“.
Bürgerbürobeamtin: „Haben Sie Fotos dabei?“
Neon: „Ja, bitte“. *reicht Passbild*
Bürgerbürobeamtin: „Das ist nicht biometrisch!“.
Neon: „Wie bitte?“
Bürgerbürobeamtin: „Sie brauchen biometrische Fotos. Auf diesem lächeln Sie!“. *reicht Foto zurück*
Neon: *lächelt gequält* „Und wo bekomme ich die am Schnellsten?“
Bürgerbürobeamtin: „Gegenüber bei Optiker X.!“. *schneidet brutal Ecke von altem Pass ab*

— halbstündige Pause zur Anfertigung von Biometrikpassbildern —

Neon: „Ich habe jetzt die Fotos. Wann kann ich den neuen Pass abholen?“
Bürgerbürobeamtin: *nimmt biometrische Fingerabdrücke ab* „Wenn Sie Glück haben, in 3 Wochen!“
Neon: „Also so ab dem 15. Juli? Hören Sie, da sitze ich schon im Flugzeug. Und hoffentlich mit Pass.“
Bürgerbürobeamtin: *genießt Aufregung von Herrn Neon* „Jetzt den anderen Finger bitte!“
Neon: *sieht New York sausen*
Bürgerbürobeamtin: „Es gibt da noch eine Möglichkeit!“ *spitzt Lippen und kostet Pause aus*
Neon: *haucht* „Ja?“ *setzt allerliebstes Sympathielächeln auf*
Bürgerbürobeamtin: „Expresspass! 3-4 Tage! 91 Euro!“
Neon: *atemnot* „Waaas? 91 Euroooooo?“
Bürgerbürobeamtin: „Nein, 99 Euro, ich sehe gerade, Ihr Personalausweis ist auch abgelaufen!“
Neon: „%@$%&§€@€€#!!!$€§%/&%@“ *zahlt*

Neon!

„Scheiß Paris!“

„Scheiß Paris!“, sagt mein Vater und lässt sich schwer atmend in den blassgrünkarierten Fernsehsessel fallen, der auf meine Augen wie ein schmerzender Stachel im Fleisch des restlichen Wohnzimmers wirkt. Ächzend beugt er sich im Sessel nach vorne um seinen verkratzten, schwarzen Holzstock gegen die schwere Granittischplatte zu lehnen. „So viele Pläne hatte ich noch“, sagt er traurig, und schaut mich müde aus den nicht ganz geöffneten Augen an.
In den letzten Wochen und Monaten hört man ihn oft „Scheiß Paris!“ rufen und obwohl ich immer noch nicht weiß, was es exakt bedeutet, spüre ich die Verzweiflung in seiner trockenen Stimme und die Bedeutung dessen, was er damit sagen will, sehr genau.
„Weißt du, ich vergesse jetzt viel“, murmelt er und kramt nervös in der Tischschublade nach den Xeloda. „Wo sind meine Tabletten?“, ruft er quer durch die Wohnung und aus der Küche schallt ein „Die hast du doch schon vor 2 Stunden genommen!“ zurück.
Er grummelt leise vor sich hin, dann richtet sich sein Blick wieder auf mich. Ein Lächeln huscht über seine Lippen: „Was machen die Aktien?“, fragt er und guckt spitzbübisch. „Gut, gut“, antworte ich aufmunternd, „das war eine prima Entscheidung, im März fünf Deutsche Bank Aktien für deine Enkel zu kaufen“. „Bestimmt sind wir bald Millionär“, sagt er zufrieden. Ich überschlage kurz, dass der Kurs dafür noch um ca. zweihundertzweiunddreißigtausendfünfhundertachtundfünfzig Prozent steigen muss, aber sage nur „Nana Paps, ich glaube, das braucht wohl noch etwas Zeit“.
„Nächste Woche bekomme ich ein Hörgerät“, sagt mein Vater und schaut etwas verdrießlich. „Ich hoffe, man sieht es nicht so. Das wäre nicht gut, wenn die anderen sehen, dass ich ein Hörgerät brauche. Deine Mutter hat darauf bestanden, weil ich den Fernseher immer so laut stelle“, sagt er und wirft einen unzufriedenen Blick in Richtung Küche. Stille.
„Es ist noch zu früh dafür“, sagt er resignierend, „ich hatte noch so viel vor“. Und obwohl ich weiß, dass er nicht das Hörgerät meint, sage ich „Du wirst staunen! Die haben eine unglaubliche Entwicklung gemacht in den letzten Jahrzehnten. Da müssen wir ja am Ende noch aufpassen, was wir sagen, wenn du dann alles hören kannst“. Lächelnd schließt er die Augen.
Ich stehe leise auf und hole unten auf der Straße die Wasserkästen aus dem Auto, bringe sie in den Keller, nehme ein paar Flaschen mit hinauf. Als ich mich wieder auf’s Sofa setze, schlägt er die Augen auf. „Stell dir vor, gestern konnte ich gehen wie ein junger Gott. Aber heute… …fühl ich mich ganz schwach …und mir ist so kalt …kannst du mir eine Decke holen?“.
Vorsichtig lege ich die Decke um seine Schultern. „Hast du die Aktienkurse gesehen?“, fragt mich mein Vater. „Ja, sind gut gelaufen“, antworte ich abwesend.
Gedankenverloren schaut er aus dem Fenster. „Nach Mallorca wollte ich im Herbst“, sagt er leise. „Aber dafür fehlt mir jetzt die Kraft.“
„Scheiß Paris!“, sage ich. „Ja, scheiß Paris!“, sagt mein Vater.
Neon!