Archiv für den Monat: Juni 2010

Maschinenzwischenwelt

Es ist etwa vier, als ich meine Hände desinfiziere, durch die Besucherschleuse der Intensivstation trete und eintauche in die Andersartigkeit der Maschinenzwischenwelt. Beharrlich und nie erlahmend vermisst sie das Restleben der ihr anvertrauten Körper und gibt Alarm, wenn einer die Zwischenwelt verlassen will.
Meine Gedanken kreisen noch sehr um die Abizeugnisausgabe vom kleinen Neon. Stolz, Freude, Lachen, Abschied, Tränen, Aufbruch zu neuen Zielen. Und nun stehe ich hier, am Bett meines Vaters, und mein Magen verkrampft angesichts der Anzahl von Schläuchen und Maschinen, die in seinem Körper enden. Jedesmal werden es mehr. Mehr Schläuche, mehr Maschinen – nur die Hoffnung, die wird immer weniger.
Freude und Schmerz. Stolz und Angst. Umarmen und Loslassen. Es ist nicht so, dass ich in meinem Leben nicht bereits eine gewisse Bandbreite an emotionalen Erfahrungen gemacht hätte. Doch Freude und Schmerz so nah beieinander, das ist neu. Und mehr, als ich im Moment gebrauchen kann.
Flink, gewandt und wortlos steckt die Schwester Kanüle um, hängt neue Beutel auf, führt Schlauchenden in gekapselte Körperöffnungen, notiert Messwerte, die sie von den Monitoren abliest. Mein Vater ist nicht bei Bewußtsein. „Ja, er wird noch sediert. Wegen der Intubation, wissen Sie?“, sagt die Schwester, während mein Blick auf dem dickeren Schlauch ruht, der in seinem Hals verschwindet.
Ruhig spricht sie über die septische Einschwemmung, die noch ansteigenden Entzündungswerte, den Verlauf der 4. Krebs-OP, die doppelläufigen Stoma und die Bluttransfusionen. Mein Blick fällt durch die Glaswand ins Nebenzimmer. Eine junge Frau liegt apathisch, mit offenem Mund und angsterfüllten Augen in ihrem Bett. Ein kleiner Teddy liegt neben ihrem Kopf, ihr Freund hält ihre Hand, spricht leise mit ihr. Ich wende meinen Kopf weg, weil ich die Intimität dieses Moments nicht verletzen will.
Von irgendwo dringt gedämpfter Jubel. Der Kopf einer Schwester taucht im Türkreuz auf: „Deutschland führt 1:0 gegen England“, flüstert sie ihrer Kollegin in den Raum. Sie nickt verstehend, während sie Salbe auf die Lippen und in die Augen meines Vaters streicht. Es scheint, der Tod hat sein Spiel nur ein paar Wochen unterbrochen. Der Krebs ist nicht mehr aufzuhalten, hat nun keinen Gegner mehr.
„Konnten Sie heute schon mit der Ärztin sprechen?“, sagt die Schwester. Ich schüttele leicht meinen Kopf. „Wir müssen wahrscheinlich Mitte der Woche einen Luftröhrenschnitt machen – wegen der weiteren Intubation, wissen Sie? Könnten Sie das bitte mit Ihrer Mutter besprechen, wegen des OKs?“.
Von draußen strömt erneut leiser Jubel in das Zimmer. Deutschland führt 2:0. Er hatte sich so auf dieses Spiel gefreut. Nicht mal das ist ihm gegönnt. „Können Sie uns nun ein paar Minuten alleine lassen?“, sage ich in die Stille. Die Schwester nickt. Es ist Zeit geworden, ihm für so unendlich Vieles zu danken. Ich bin sicher, er hört meine Worte.
Neon!

Pussypräsident

Eine kleine Gruppe verschwitzter Männer steht vor dem an der Hallenwand montierten Flachbildschirm und folgt aufmerksam einer NTV-Wiederholung der kümmerlichen Köhler-Abschiedsrede. „Welch eine dünnhäutige Pussy“, macht einer seinem Ärger Luft, während Köhler, soeben ein letztes Mal von einer peinlichen emotionalen Mischung aus alberner Enttäuschtheit und selbstgefälliger, wichtigtuerischer Arroganz geschüttelt, gerade damit kämpft, am Ende seiner Rede nicht in Selbstmitleidstränen auszubrechen.
Die Runde nickt zustimmend und nimmt fassungslos zur Kenntnis, dass Oberrapper Horst mangels höherer Frustrationstoleranzgrenze und sehnsüchtig vermisstem „R-e-s-p-e-k-t“ sich gerade selbst aus dem Break-Dance-Contest der täglichen Politikschau absentiert hat.
Dabei hätte Hip-Hop-Horst doch wissen müssen: Respekt kann man weder einfordern, noch bekommt man ihn so einfach geschenkt – Respekt muss man sich verdienen. „Wenn Horst Eier gehabt hätte, hätte er die Sache wenigstens noch adäquat eskaliert und Trittin mit in die Versenkung genommen“, kommentiert ein anderer den zittrigen Bühnenabgang von Pussy Galore, die eben noch Präsident war. Wieder allseits zustimmendes Nicken.
Doch Horst spricht nun nicht mehr zum Volk, das ihn doch so lange mit respektierlichen Sympathiewerten beschenkt hatte, sondern schweigt dieses ab sofort beleidigt an, wie ein Hohlkopf-Vater, der von seinem eigenen Kind enttäuscht ist und sich doch eigentlich fragen müsste, was er selbst falsch gemacht hat.
Hm, ich gebe zu: in eklatanter Abweichung zum deutschen Volk habe ich nie viel von Horst gehalten. Zu dürftig und dürr seine Reden, zu anbiedernd an das Volk seine späten Mahnungen, so betont-fingiert-unbequem anstatt konstruktiv versammelnd, nach vorne weisend, das Ziel vorgebend. Da ist es besonders tragisch, auch noch im Abgang zu dilettieren. Es sollte einem als Lebensziel unter keinen Umständen genug sein, von möglichst vielen gemocht zu werden. Der wahrscheinlich erhoffte Kläßmann-Solidarisierungseffekt wird sich für Köhler nicht einstellen, auch, weil die Glaubwürdigkeit der präsentierten Abschiedsstory für die Allermeisten veritable Lücken aufweist.
Als Ökonom und ehemaliger IWF-Chef hätte gerade er die „Big Points“ in einer Zeit der Krise und kommenden Deflation spielen können. Wie wenig hat er es verstanden, seine originären Kompetenzen in dieser so wichtigen Rolle zu nutzen. Wie wenig respektvoll hat er am Ende „sein Amt“ behandelt, für das er doch eigentlich diesen Respekt einforderte. Nun hat Horst blank gezogen und zieht sich aufs gut dotierte Altenteil zurück. Satt, fertig, voll daneben.
„Vollhorst!“, sagt einer in der Runde. Alle nicken ein letztes Mal zustimmend bevor sie sich resignierend vom Fernseher abwenden und wieder auf ihre Trainingsgeräte zusteuern, die für den Rest des Abends das zusätzliche Adrenalin aushalten werden müssen.
Neon!