Archiv für den Monat: Juli 2010

Hochsitz der dunklen Gedanken

Das Leben fließt. Seltsam unbeteiligt gurgelt es in wilden Strudeln um mich herum. Es lacht, es liebt, es lebt, sprudelt in fremder Leichtigkeit. Ich schaue herab von dem Hochsitz, auf den der Tod mich getrieben hat. Wie Treibholz schwimmen die Menschen auf den schäumenden Wellen ihrer kumulierten Lebensaugenblicke und verdrängen jeden Gedanken an ihr Ende, so, als würde es für sie immer so weiter gehen. Und dann, wenn sie doch einen Moment das eigene Nachdenken zu sehr bedrängt, betäuben sie sich mit der uralten, klugen, dummen Illusion des ewigen Lebens im Zuckerwatteberuhigungsdenkmodell ihrer opiaten Wahlreligion.

„Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich – Scheidung und nähere Selbstverbindung zugleich. Durch den Tod wird die Reduktion vollendet.“ (Novalis: Blütenstaub, Fragment N r.14)

So sitze ich auf dem Hochsitz der dunklen Gedanken und versuche, die Bilder von der Aufbahrung aus meinem Kopf zu bekommen. Morgen will ich niederschreiben, dass ich verbrannt werden will, wenn einst mein eigenes Ende kommt. Nichts soll überbleiben und niemand soll erschreckt werden durch den desaströsen Prozess der optischen Entmenschlichung.
Seit ich nicht nur im Bestatterblog von den vielfältigen Stadien der Verwesung, der Selbstverdauung von Mägen, dem Festmahl eigener Bakterienstämme und der rapiden Verflüssigung von Zellgewebe gelesen habe, reifte die Entscheidung schnell, diesen unsäglichen Transformationsprozess für mich zeitlich effektiver zu gestalten. Ich frage mich, ob es nicht für jeden Menschen noch zeitlebens ein befreiendes Gefühl sein könnte und müsste, seinen eigenen gierigen, despektierlichen Mund- und Darmbakterien im Tod ein letztes Schnippchen zu schlagen und ihnen die vorauskalkulierte Selbstverdauung des eigenen Körpers durch geschickte Prozessänderung zu versagen. Nur eine von vielen Entscheidungen, die man besser selbst trifft.
Laut §4 Absatz 1 der „Ordnungsbehördlichen Verordnung über das Leichenwesen“ des Landes NRW muss jeder Tote innerhalb von 120 Stunden beigesetzt werden. Es ist bizarr, mit welcher Geschwindigkeit Angehörige Verstorbener zu den Fragen beflissener Bestatter verbindliche Entscheidungen treffen müssen, die sie doch eigentlich weit wegschieben möchten. Ich habe nie mit meinem Vater darüber gesprochen, welche seiner Kleidungsstücke er gerne im Sarg anhaben würde. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie ein Kranz zu gestalten sei, welche Blumen passend wären und welcher Schleifentext meine Gefühle am besten wiedergäbe. Soll der Kranz aufrecht stehen oder liegen? Soll ein Pfarrer oder Freiredner sprechen? Welche Musik soll gespielt werden? Nein, maximal 2 Stücke; das Ganze muss in 30 Minuten vorbei sein, dann steht die nächste Leiche bereit. Die deutsche Körperentsorgung ist straff organisiert und gut durchgetaktet.
„10 Jahre zu früh!“, sagt meine gefasst wirkende Mutter zu jedem, der ihr am Grab kondoliert. Es wirkt auf mich seltsam distanziert und rational analysierend – aber jeder Mensch trauert anders. Ich schaue jedem fest in die Augen, der meine Hand ergreift. Manche Augen schauen sehr traurig, manche wollen Mut spenden mit einem kleinen Lächeln zu einem festen Händedruck, manche bemühen sich vergeblich um einen zutiefst betroffenen Gesichtsausdruck.
Am Abend stehe ich alleine vor dem aufgeworfenen Grab, richte die Kränze und zupfe an den Schleifen. Ja, ich werde präzise aufschreiben, wie ich es mir vorstelle, werde alle Entscheidungen vorwegnehmen und keine Fragen offen lassen. Und dann ist wieder Zeit zu lachen, zu leben und zu lieben.
Neon!