Archiv für den Monat: August 2010

Totaal verhuurt!

Eigentlich hätte man es durchaus ahnen können. Bei einem Land, das Studentenzimmer unter der Menüoption „Verhuuren“ anbietet, sollte man lieber gleich genauer hinsehen. Aber der Reihe nach.
Zunächst war es ja mal durchweg positiv zu werten, dass der nicht mehr so kleine Neon schon vor dem Abi festen Willens war, diesen englischsprachigen Business-Studiengang in Holland anzugehen. Die Bewerbung an der Hochschule verlief denn auch unproblematisch, allerdings schafften wir es leider nur auf die lange Warteliste des Studentenwohnheims. Großer Mist – nun war also zügige private Wohnungssuche angesagt.
Wer noch daran zweifelt, dass studentische Wohngemeinschaften in den Niederlanden zur Achse des Bösen zählen, braucht sich nur mal ein Mietangebot der holländischen Webseiten directwonen oder kamernet vom hilfreichen Google Translator übersetzen zu lassen: da werden Mitbewohner der Wohngemeinschaft kurzum als „Mithäftlinge“ übersetzt. Nach der Erfahrung der letzten Wochen ist klar, dass diese spektakuläre Interpretation absolut kein Beweis für das Versagen maschineller Übersetzungsalgorithmen sondern tatsächlich bittere, alltägliche Wahrheit ist.
Unglaublich, welch garstigen Angebote der holländische Markt für studentische Unterkünfte bereithält. Und das zu völlig närrischen Preisen. Anders als hier zahlt man dort oft auch schon für die Möglichkeit, sich das reale Objekt überhaupt nur anzusehen (€ 10-25). Der Makler kassiert selbstredend vor der Besichtigung, wohl weil er ahnt weiß, dass es danach höchstens Löffelschläge statt Geld gäbe.
„I must warn you. The room may look a bit messy to you, but it’s gonna be cleaned up“, sagt die quietschige Maklerin, nachdem sie 10 Euro für’s Ansehen dieser weiteren Mietchance abkassiert hat. Naja, ok, messy, kann ja schon mal vorkommen, wenn ein Student nach Jahren auszieht, das Zimmer voller Kartons steht und noch nicht renoviert ist. Linda, die Maklerin, führt uns also 15 Minuten zu Fuß durch die Straßen, bis wir vor einem größeren Eingang stehenbleiben. Der Geruch, der durch die halboffene Haustüre auf die Straße dringt, ist, hm, sagen wir, etwas streng. Im Flur steht auf dem Boden eine überquellende Plastikbox mit teilweise aufgerissenen Umschlägen, die wohl als Briefkasten für die 12+ Mieter dient. Linda zieht schnell noch einen tiefen Atemzug Frischluft in ihre Lungenflügel und öffnet dann die erste Zimmertüre rechts.
Kleiner und großer Neon riskieren einen vorsichtigen Blick. Unfassbar! An diesem Messi-Zimmer hätte die dicke Tine mit ihrer Pseudo-Renovierungssendung eine wahre Freude, müsste aber wohl mit 6-facher Teamstärke antreten, um hier noch etwas zu retten. „I told you, it’s a bit messy“, kommentiert die Maklerin unsere ungläubigen Blicke mit der verbalen Untertreibung des Jahrhunderts.
Zwischen Essens-, Klamotten- und Abfallresten sind nach grobem Umriss 4 zerfetzte Sofas (1 an jeder Wand) zu erahnen, welche ausnahmslos so zugemüllt sind, dass die letzten Monate dort keiner geschlafen haben kann. Im vorherrschenden Gestank des hügeligen Zimmers setzt sich klar die Kombinationsnote „süßlich-schmierig-rauchig“ durch, wobei sich hier neben Zigaretten und dickeren „Tüten“ eindeutig die Duftmarke „Ich grille Verdorbenes auch im 15qm Zimmer“ in den Vordergrund drängt. Das Fenster direkt zur Hauptstraße ist seit Jahren nicht geöffnet worden. Der kleine Neon deutet wortlos auf das Spritzbesteck und den zum Erhitzen verwendeten Löffel, den ich bislang übersehen hatte.
„Do you want to see the kitchen?“, fragt die Maklerin und bevor ich noch ein irritiertes „Nein“ keuchen kann, schleppt sie uns zurück in den Flur und auf die andere Seite. Ich weiß sofort, dass das die Küche sein muss, weil man mit den Sohlen schon am Eingang (und im ganzen restlichen Raum) am Boden festklebt. Hier hat über Jahre keiner mehr Eßbares gekocht, geschweige denn anschließend sauber gemacht. „The rent is € 390,- a month!“, schiebt die höchst erfolglose Maklerin noch nach und ich kann mir ein „Are you kidding me, Linda? Who is this guy who lived here?“ nicht verkneifen. „I don’t know“, sagt sie, „he just didn’t show up anymore. Maybe he killed himself somewhere by an overdose!“. Hm, nach den vielen Fliegen zu urteilen, hat er das sogar hier gemacht. Gruselig.
Erst auf der Straße atme ich wieder tief durch. „Oh, do you also want to see the shower in the basement!“, fragt sie mit unschuldigem Augenaufschlag. „I don’t think so, Linda!“, sage ich der Maklerin ohne Gefühl für Kunden, „I guess it’s just not the right place“. Langsam gewinnt der Begriff „Woning verhuren“ eine plastische Bedeutung. Egal, jetzt bloß nicht demotivieren lassen. „Thanks for taking the time, we gotta move on to one of your colleagues“. Linda guckt betroffen trotz der kassierten 10 Euro. Whatever!
Neon!

Zauberhafter Pumpsverlust

Wenn man bereit ist und es zulässt, braucht es meist nicht viel, um den grauen, traurigen Seelenschleier wie einen morbiden Vorhang wegzuziehen und leichteren Fußes vom Hochsitz der dunklen Gedanken hinabzusteigen. Das Ereignis, das dies bewirkt, muss auch nicht immer der Situation entsprechend angemessen daherkommen.
Oft ist es etwas, das mein besonderes Interesse erregt, das meine Gedankenzüge ganz unerwartet auf neue Schienen setzt, etwas extremistisch Unalltägliches, etwas zauberhaft Absonderliches, etwas so unvergleichlich Merkwürdiges, dass es sofort alle Schichten der bleiernen Nabelschau wegsprengt.
Situative Bilder sind gute Kandidaten für einen solchen Befreiungsschlag. Hinzu kommt, dass ich Bilder liebe, die eine Geschichte andeuten, aber deren innere Ausgestaltung der eigenen Phantasie überlassen. Kürzlich, an einem Samstag, auf dem Weg zum Wald, hielt ich vor eben dieser Ampel. Irgendjemand war wohl nächtens seines sehr eleganten Pumps verlustig gegangen, eine andere Person hatte diesen gefunden und angesichts seiner unzweifelhaften Werthaltigkeit und zwecks romantischer Wiedervereinigung mit dem nun einsamen Single-Pumps an unbekanntem Aufenthaltsort auf diese Baustellenampel gestellt.
Naja, und wie ich so vor der roten Ampel wartete und darüber nachdachte,

  1. wie Herr Mahakala wohl in dieses Viertel gelangte,
  2. in welchem Zustand und bei welcher anrüchigen Tätigkeit er den Verlust des Pumps nicht bemerkte,
  3. und wie er einseitig barfüßig und frustriert ob des teuren Verlusts nach Hause stöckelte,

schlich sich erst langsam, dann schneller, ein Lächeln auf meine Lippen.
Das Leben ist einfach unberechenbar schön, so wunderbar unvorhersehbar und überraschend, dass man einfach keinen Tag verpassen sollte, nur weil man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Für diese wichtige Lektion gebührt Herrn Mahakala mein ausdrücklicher Dank! ;)
Neon!