Archiv für den Monat: September 2010

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Die Zeit fliegt. Sie saugt dich ein und spuckt dich aus und lässt dich ratlos stehen. Mehr als 2 Monate ist es her, dass er in meinen Händen starb. Nichts ist mehr so wie vorher, wenn dein Vater oder deine Mutter gegangen ist. Eine uralte, vertraute, unersetzliche Bindung ist zerstört – und niemals, niemals, niemals wird es sie wieder geben.
Und so stand ich also an diesem nasskalten Septembernachmittag in seinem verlassenen Garten, alleine, und sah, dass er auch hier fehlte. Äpfel lagen in Scharen am Boden, verfault, ungepflückt, so wie die Pflaumen, die danach schrien, geerntet zu werden. Und plötzlich strömten all diese Erinnerungen auf mich ein, all diese Momente, in denen wir redeten und lachten, und die sich nun schon so weit weg anfühlten. „Ich glaube, ich bin nicht mehr lange hier“, sagte er einmal zu mir im Schatten an der großen Hecke, kurz bevor er wieder ins Krankenhaus musste. Und wieder schnürt es mir die Kehle zu, als ich daran denke. Nichts kann man tun und nichts kann man ändern, wenn die Zeit gekommen ist.
Dein Leben hängt an einem seidenen Faden und es taumelt von einem Zufall in den nächsten. Nicht, dass man es nicht beeinflussen könnte: dein Leben ist absolut eine stringente, wohlaufgereihte Kette deiner Entscheidungen, die du minütlich, stündlich, täglich triffst. Aber am Ende des Tages gibt es einen Teil, den du nicht bestimmen kannst, diesen kleinen, überragend-wichtigen Teil, worein du geboren wirst, wen du in deinem Leben triffst, an welchen Krankheiten du erkrankst, welche Unfälle du hast, wieviele Stunden der Arbeitstag deines Arztes bereits hatte, bevor du in den OP kommst.
Es gibt Dinge, die liegen außerhalb deiner Entscheidungs- und Planungskompetenz. Bis dahin kannst du alles richtig gemacht haben, alle Entscheidungen für dich richtig getroffen haben, aber wenn dieser eine Punkt kommt, an dem deine Dispositionen keine Rolle mehr spielen, bist du schneller tot als du es dir je vorstellen konntest. Und verdammt, es ist nicht schön, zu realisieren, dass man nicht Herr des eigenen Masterplans ist.
All diese Dinge gingen mir im Kopf herum und schließlich konnte ich nicht gehen, ohne die mich anschreienden Äpfel und Pflaumen einzusammeln und so zum Zufall in ihrer Geschichte zu werden. Ich sammelte und sammelte, soviel ich tragen konnte, um dem frechen, unerbittlichen Zufall wenigstens ein bisschen entgegen zu setzen. Dann setzte ich mich auf die verwitterte Holzbank, die er vor Jahren selbst gebaut hatte, aß eine Handvoll der Pflaumen, rief mir sein Gesicht in Erinnerung und akzeptierte das Leben als das was es ist.
Neon!

Blutrote Boxershorts

Eigentlich ging’s mir an diesem Tag richtig dreckig. Hierbei definiert sich ‚dreckig‘ mit Fieber oberhalb der 39-Grad-Grenze, einem entzündeten Hals in der Dicke von Jabba the Hutt, Augen so verquollen wie Schwarzenegger in Total Recall (kurz bevor der aktivierte Reaktor eine atembare Atmosphäre auf dem Mars herstellt) und verklebten Tuben, deren Inhalt auch gut als megaübler Pattex Montagekleber extrastark hätte verkauft werden können. Der kleine Neon hatte mich also mit irgendeiner letalen Mutation dieses West-Nil-Ebola-Malaria-H1N5-Vogelgrippe-Virus angesteckt und das letzte, das wirklich allerletzte, worauf ich an diesem Wochenende Lust hatte, war, ein Studentenzimmer in Holland in einen wieder bewohnbaren Zustand zu transformieren.
Aber das Leben ist kein Wunschkonzert. Und so hatte es Linda überraschend geschafft, unseren Wunsch nach einem adäquaten Zimmer mit partieller Bad- und Küchennutzung endlich zu erfüllen. In allerletzer Minute, gerade rechtzeitig zum Studienbeginn, hatte es also mit der neuen Unterkunft geklappt, und es blieb keine Zeit, die Übergabe und den Einzug noch weiter nach hinten zu schieben. So packten wir den guten alten T bis unters Dach: Farben, Pinsel, Rollen, Klebeband, Abdeckplanen, Bett, Schreibtisch und 1000 andere Dinge, die über die Grenze gehen sollten.
Nur die Tüte mit meinen Arbeitsanstreicherrenovierungsjeans und -schuhen blieb leider einsam in unserer Diele stehen – aber das merkte ich erst, als die Verträge in Holland lange unterschrieben waren, wir alleine in der Wohnung standen und der kleine Neon mich erwartungsvoll ansah, was nun wohl als Nächstes passierte. „Ich denk, die Holländer sehen das ganz entspannt: da muss ich improvisieren.“, sage ich zum kleinen Neon, ziehe die schwarze, unter keinen Umständen als Malerhose zu missbrauchende Boss-Jeans aus, zupfe die Boxershorts zurecht, und beginne, den 10-Liter-Eimer Farbe anzurühren.
Und ich sollte Recht behalten. Von den 5 auf der Straße vorbeigehenden und erfreut in die 1.Etage blickenden Frauen

  • sahen mir 5 schmunzelnd auf die Boxershorts
  • lachten 3 und zeigten mir einen OK-Daumen
  • pfiffen 2 lautstark und wollten mehr sehen.

Nicht, dass ich mich nachts, endlich zuhause, besonders gut fühlte. Der West-Nil-Ebola-Malaria-H1N5-Vogelgrippe-Virus war erbarmungslos und offensichtlich sehr pikiert und entrüstet über Männer, die in Boxershorts Zimmer streichen. Das ließ er mich deutlich spüren. Trotzdem schlief ich zufrieden ein. Ein ganzes Zimmer blutrot-weiß gestrichen und etwas für die deutsch-holländische Völkerverständigung getan: was kann man mehr erwarten von einem Dengue-Fiebertag in kurzen Boxershorts.

Neon!