Archiv für den Monat: November 2013

Broken

Selten kommt es vor, dass mich ein Musikvideo so berührt. Dass es mich wahrhaftig tief anrührt, sich eindringlich in Erinnerung ruft und merkwürdige Gedankenstränge befördert.
Es ist „Open Mic“ Nacht in einer der unzähligen Double „E“ Bars in Rednecks Farmland des Bluegrass und Country Songs im südlichen Amerika entlang des Purple Heart Trails. Die Open Mic Bühne ist offen für jedermann — jeder hat die Chance, an diesem Abend sein Publikum zu finden: du nimmst dir die Bühne und du spielst. Ein Country-Duo performt die letzten Akkorde und hofft vergeblich auf eine Reaktion der einsamen Menschen in dieser dunklen, schummrigen Bar mit der seltsamen Mischung aus am Leben Gescheiterten, Gebrochenen und Ablenkung Suchenden.
Ich lese so viele Geschichten aus den Bildern und Gesichtern. Traurige Geschichten von Menschen, die bereits gescheitert sind und jenen, die noch zerbrechen werden, wenn sie nicht den Mut aufbringen, ihr Leben zu verändern: die Frau ohne Hoffnung alleine am Tisch, der grauhaarige, zerrissene Alte an der Bar, die gedankenverlorene blonde Frau im Bling-Bling-TShirt, das streitende Paar, der telefonierende Mann und seine ängstlich-eifersüchtige Freundin, die Streitenden vor der Bar, das sehnsüchtige Bar-Mädchen, deren Blick sich am Ende mit Tränen füllt, die betrunkene Frau, die so sehr nach Nähe sucht. Jedes Ansehen offenbart weitere schmerzende Details trauriger Hoffnungslosigkeit und die furchtbare Gewissheit einer Vorahnung auf ein fehlendes Happy-End für jeden von ihnen.
Es ist, als friere die Zeit ein, als sähe ich auf die Menschen und ihr Leben als eine stringente Kette ihrer minütlichen, stündlichen, täglichen Entscheidungen, in der das Leben, dein Leben, die ein oder andere Wendung nimmt. Jeden Tag stehen wir an Gabelungen und nehmen diesen oder eben den anderen Weg. Man wünschte sich die Fähigkeit von Nicolas Cage in „Next“, einen Weg zu gehen, die Ereignisse der Zukunft zu sehen und so alle Handlungsoptionen logisch und sicher durchzuspielen. Doch den richtigen Weg zu nehmen, ist eine Mischung aus Ratio und glücklichem Zufall. Ich bin nicht sicher, was den größeren Anteil hat.
Ich kenne Menschen, die entscheiden immer falsch. Manches Mal habe ich versucht, zu helfen, Urteilsfähigkeiten zu verbessern, kausale Abhängigkeiten zu erklären, den möglichen Erfolg von Entscheidungsoptionen zu quantifizieren, aber am Ende des Tages war all das meist vergeblich. Dann gibt es Menschen, die machen alles richtig, machen sich Mühe, entscheiden stets überlegt und klug, aber der Zufall vernichtet respektlos ihren guten Plan.
Der Zufall hat es gut mit mir gemeint. Wenn man lange im World Trade Center gearbeitet hat und nur wenige Monate vor dem Anschlag nach Deutschland zurückkehrt, darf man das annehmen. Viele, die ich dort kannte, sind tot und Staub. Es ist, als sähe ich ihre Gesichter in der düsteren Bar des Jake Bugg Clips. Ich mag die Menschen in dem Video und ich wünschte, ich könnte ihre Zukunft ändern. Der Zufall ist ein Kind, das spielt.

Jake Bugg — Broken
Alternativer Videolink

Uschis Schwester

Pull the pin, Kim!

Gestern im Fitti traf ich Uschis Schwester. Sie wissen schon, die Uschi, die seinerzeit einen beträchtlichen Teil ihrer IQ-Punkte gegen die Abmilderung gefühlter körperlicher Unzulänglichkeiten tauschte und seitdem auf Kriegsfuß mit Fitnessgeräten steht.

Nicht, dass ich vollkommen sicher wäre, dass — nennen wir sie „Kim“ — wirklich mit Uschi verwandt wäre, jedoch, um es mit Konrad Lorenz zu sagen: es gibt da deutliche Parallelitäten in Anatomie und Verhaltensweisen. Auch ist Kim nicht blond wie Uschi, tritt aber jederzeit sehr überzeugend den Nachweis an, dass auch kurzgeschnittene Schwarzhaarige intellektuell zu immens weniger imstande sind, als man es ihnen gemeinhin zutrauen würde.

Mein erster Blick fällt auf Kim, etwa Mitte Zwanzig, als sie an das Lower Back Trainingsgerät tritt und sichtbar angestrengt beginnt, mögliche Strategien für die Verstellung des Rückenpolsters zu entwickeln, damit es auf ihren Schulterblättern zu liegen käme.

Nun muss man wissen, dass jene Geräte über unübersehbar-grellgefärbte Yellow Pins verfügen, die man zweckmäßig ein Stück herauszieht, die individuelle Verstellung vornimmt und sie wieder einrasten lässt. Zu einfach für Kim. Kim fängt an zu drehen, mal rechts herum, mal gegen den Uhrzeigersinn, was jedoch wenig Sinn macht, da die gelben Hebel in Ermangelung eines Gewindes endlos mitdrehen.

Nach etwa 40 Sekunden erfolglosen Hin- und Herdrehens kommt Kim zu dem Schluss, dass das Gerät defekt sei und geht schnurstracks zum angrenzenden Partnergerät, um dort ihr Glück zu suchen – natürlich durch erneutes Schraubdrehen des Yellow Pins. Nun muss man außerdem wissen, dass für ganz Merkbefreite ein klar verständliches Pull auf den Plastikhebel graviert ist. „Pull!“ — nicht etwa „Twist“ oder „Screw“ oder „Handle me in the most bizarre way that comes to your mind!“.

Nicht umsonst schreibt der Hersteller auf seiner Webseite „Die Hebel, Tasten und Steckstifte sind gelb und sehr gut erkennbar, daher kann auch ein Benutzer mit weniger Erfahrung die Einstellungen problemlos, ohne Unterstützung durch den Trainer, finden und durchführen.“. Hm, die hatten wohl seinerzeit keine Kim für ihren Enduser-Gerätecheck im Testlabor.

Als ich beobachte, dass Kims Blick zum dritten Lower Back Übungsgerät schweift, weil das aktuelle offensichtlich auch defekt sein muss, erbarme ich mich und spreche sie an: „Hallo, darf ich dir mit dem Hebel helfen? Du musst einfach ziehen, siehst du?“.

Kims Augen strahlen. „Ah, danke!“, sagt Kim, zieht frisch erleuchtet an dem Hebel und verstellt ihn wunschgemäß. Im Weggehen sehe ich aus den Augenwinkeln, wie sie nach dem Einrasten wieder beginnt, gegen den Uhrzeigersinn zu drehen. Offensichtlich will sie den Yellow Pin nach ihrer höchst erfolgreichen Verstellung wieder festdrehen. Ich gebe auf. Man muss nicht den Anspruch haben, jedes Problem lösen zu wollen.

Freitagstexterpokalisierung

Herrje, die Freitagstexterpreisvergabe zählt mit Sicherheit zu den am meisten unterschätzten Schwierigkeiten, die das Leben bereithalten kann — das habe ich mir wirklich einfacher vorgestellt. Nun denn:

Abgetrennte Beine scheinen synaptisch ein verborgenes Französisch-Gen zu aktivieren: gleich zu Anfang wurden hubbie („cherchez la femme“) und Kienspan („prêt-à-porter“) von romanischen Anwandlungen überwältigt. Nicht übel!

Überhaupt kam ich als Liebhaber des rabenschwarzen Humors bei den vielen finsteren Gedankengängen zu knackigen Unterbeinen nur schwer aus dem Dauergiggeln — besonders Herrn Schnecks auf die Beschaffung von Organspenden trainierter Lumpi hat viel Freude gemacht und wurde gleich als neue Geschäftsidee notiert. So lässt sich das Dog Agility Training doch noch in sinnvolle Bahnen lenken.

Wie der ehrenwerte Antoine de S-E bin auch ich der Überzeugung, das perfekte Texte (und somit auch Bildunterschriften) jene sind, bei denen man kein Wort mehr wegnehmen kann. Ganz eindeutig hat das Bee diesen Grundsatz mit „Hasso – Fuß!“ in perfekt-knapper Weise überzeugend dargeboten. Das war folglich nicht mehr zu toppen.

Die Freitagstexterpokalisierung stellt sich also wie folgt dar:

  1. Bronze geht gleichermaßen an hubbie und Kienspan für die kluge Verbindung frankophoner Bonmots mit einem hüftlosen Frauenbein.
  2. Das silberne Unterbein geht demgemäß an Herrn Schneck samt Beschaffungstäter Lumpi.
  3. Den goldenen Pumps samt Inhalt erhält das Bee zusammen mit der Verpflichtung, alsbald den nächsten Freitagstexter zu küren. Herzlichen Glückwunsch zum Pokalgewinn!

Vielen Dank an alle Beintexter für die wunderbaren Beiträge! Die nächste Chance auf Sieg und Platz ergibt sich ab Freitag hier:

Freitagstexter

Freitagstexter

Dank bischöflicher Steilvorlage und der mutwilligen Verleihung des Pokals durch Herrn Shhhhh steht nun die freudige Premiere der Freitagstexterausrichtung im Hause Neon an. Für jungfräuliche Mittextkandidaten sei kurz erklärt, dass dieser Pokal bereits seit einigen Jahren über die verschiedensten Blogplattformen hinweg neue Kurzbesitzer findet, die damit auch die Verpflichtung zur Weiterführung sowie der (immens schweren) Auswahl ihres Nachfolgers/ihrer Nachfolgerin übernehmen.

Bleibt zu erwähnen, dass man Blogbesitzer sein sollte und dem nachstehenden Bild einen möglichst geistreichen, verblüffenden, urkomischen, ergo umwerfenden Untertitel verpassen kann — und das alles noch bis spätestens kommenden Dienstag, 23:59:59, jene Uhrzeit, ab welcher der Vorhang endgültig gefallen sein wird und die schwere Phase der Entscheidungsfindung beginnt.

Versuche eines manipulativen Eingriffs in diesen Prozess, z.B. durch atemberaubende finanzielle oder körperliche Zuwendungen, sind absolut sinnvoll sinnlos, da Freitagstexter moralisch über jeden Zweifel erhaben in diesem Fall unbestechlich sind!

Genug der Vorrede; hier das Bild:

Max Davidson, 1928 [Vergrößerung durch Klick auf das Bild]

Viel Spaß beim Texten! Siegerehrung an gleicher Stelle wie gewohnt am Mittwoch.