Archiv der Kategorie: Nachtgedanken

Broken

Selten kommt es vor, dass mich ein Musikvideo so berührt. Dass es mich wahrhaftig tief anrührt, sich eindringlich in Erinnerung ruft und merkwürdige Gedankenstränge befördert.
Es ist „Open Mic“ Nacht in einer der unzähligen Double „E“ Bars in Rednecks Farmland des Bluegrass und Country Songs im südlichen Amerika entlang des Purple Heart Trails. Die Open Mic Bühne ist offen für jedermann — jeder hat die Chance, an diesem Abend sein Publikum zu finden: du nimmst dir die Bühne und du spielst. Ein Country-Duo performt die letzten Akkorde und hofft vergeblich auf eine Reaktion der einsamen Menschen in dieser dunklen, schummrigen Bar mit der seltsamen Mischung aus am Leben Gescheiterten, Gebrochenen und Ablenkung Suchenden.
Ich lese so viele Geschichten aus den Bildern und Gesichtern. Traurige Geschichten von Menschen, die bereits gescheitert sind und jenen, die noch zerbrechen werden, wenn sie nicht den Mut aufbringen, ihr Leben zu verändern: die Frau ohne Hoffnung alleine am Tisch, der grauhaarige, zerrissene Alte an der Bar, die gedankenverlorene blonde Frau im Bling-Bling-TShirt, das streitende Paar, der telefonierende Mann und seine ängstlich-eifersüchtige Freundin, die Streitenden vor der Bar, das sehnsüchtige Bar-Mädchen, deren Blick sich am Ende mit Tränen füllt, die betrunkene Frau, die so sehr nach Nähe sucht. Jedes Ansehen offenbart weitere schmerzende Details trauriger Hoffnungslosigkeit und die furchtbare Gewissheit einer Vorahnung auf ein fehlendes Happy-End für jeden von ihnen.
Es ist, als friere die Zeit ein, als sähe ich auf die Menschen und ihr Leben als eine stringente Kette ihrer minütlichen, stündlichen, täglichen Entscheidungen, in der das Leben, dein Leben, die ein oder andere Wendung nimmt. Jeden Tag stehen wir an Gabelungen und nehmen diesen oder eben den anderen Weg. Man wünschte sich die Fähigkeit von Nicolas Cage in „Next“, einen Weg zu gehen, die Ereignisse der Zukunft zu sehen und so alle Handlungsoptionen logisch und sicher durchzuspielen. Doch den richtigen Weg zu nehmen, ist eine Mischung aus Ratio und glücklichem Zufall. Ich bin nicht sicher, was den größeren Anteil hat.
Ich kenne Menschen, die entscheiden immer falsch. Manches Mal habe ich versucht, zu helfen, Urteilsfähigkeiten zu verbessern, kausale Abhängigkeiten zu erklären, den möglichen Erfolg von Entscheidungsoptionen zu quantifizieren, aber am Ende des Tages war all das meist vergeblich. Dann gibt es Menschen, die machen alles richtig, machen sich Mühe, entscheiden stets überlegt und klug, aber der Zufall vernichtet respektlos ihren guten Plan.
Der Zufall hat es gut mit mir gemeint. Wenn man lange im World Trade Center gearbeitet hat und nur wenige Monate vor dem Anschlag nach Deutschland zurückkehrt, darf man das annehmen. Viele, die ich dort kannte, sind tot und Staub. Es ist, als sähe ich ihre Gesichter in der düsteren Bar des Jake Bugg Clips. Ich mag die Menschen in dem Video und ich wünschte, ich könnte ihre Zukunft ändern. Der Zufall ist ein Kind, das spielt.

Jake Bugg — Broken
Alternativer Videolink

Bleierne Matratzengruft

Stille. Eine bleierne, bedrückende Schwere liegt wie eine meterdicke Schicht von Schmerz und Elendigkeit über dieser Wohnung. Ich sitze am Küchentisch meiner Eltern und starre auf die Präsentation auf meinem Laptop, die ich bearbeiten sollte – doch meine Gedanken sind weit weg.
Leise höre ich das ruhige, beständige Ticken der schweren Eichenstanduhr aus dem Wohnzimmer, während mein Blick über die furnierten Küchenschränke flimmert, die mich an die lang vergangene Zeit erinnern, in der ich hier wohnte. „Hast Du am Mittwoch ein paar Stunden Zeit?“, fragt meine Mutter am Telefon und ihre Stimme hat etwas bedrohlich Flehendes, „…ich muss mal hier raus“. „Ja, ich werde um halb zwei da sein“, sage ich und achte darauf, das nichts passiert, was mein Versprechen auch nur im Entferntesten gefährden könnte.
Kurz sprechen wir noch, über das Morphiumpflaster und das grüne Kontrolllicht des Druckwechselbetts. Dann höre ich die Haustüre zufallen – und ich bin alleine, mit meinem Vater. Unbeweglich liegt er in dem Bett, das mittels einer Maschine auf dem Boden periodisch die Liegeflächen der Matratze mittels Pressluftzufuhr verändert. Es ist dieser Moment, in dem man von der leibhaftigen Existenz von Druckwechselmatratzen erfährt, allerspätestens dann, wenn das eisige Prinzip unverschuldeten Siechtums und kalter, böser, langer Sterblichkeit sich Platz greift in deinem unschuldigen, naiven und bislang lebensfrohen Hirn und deine Welt nicht mehr dieselbe ist. Von jetzt auf gleich. Und nimmermehr.
Wie tot liegt er da. Der Kopf wie die Totenmaske von Heinrich Heine. Den Mund geöffnet. Die Wangen tief eingefallen, die Augen geschlossen. „Paps, ich bin hier, möchtest du etwas trinken?“, frage ich meinen Vater. „Jaaa“, kommt es leise stöhnend und mit immer geschlossenen Augen zurück. Ich nehme den Trinkbecher mit dem Cola-Wassergemisch und berühre vorsichtig seine Unterlippe. Zweimal saugt er an der Lasche des Bechers, dann lösen sich seine Lippen. „Hast Du Schmerzen?“, frage ich, während ich seine Hand halte. Kaum merklich bewegt sich sein Kopf und beendet die Verneinung, als wenn sie unendlich Kraft gekostet hätte. Dann sitze ich wieder am Küchentisch und sende leere Blicke auf die Powerpoint-Slides, bevor ich resignierend aber voller Sinn den Bildschirm zuklappe.
Heute, jetzt, treffe ich die Entscheidung, dass ich nicht so gehen werde. Wenn die Zeit kommt, einst, und hoffentlich weit entfernt, werde ich mein Leben beenden, so es irgendwie in meiner Macht steht, und nicht ein Sklave der bleiernen Matratzengruft werden. Niemals.
Eine Woche später. „Du musst sofort kommen“, sagt meine Mutter, „dein Vater glaubt mir nicht, dass wir vor 5 Jahren umgezogen sind“. Als ich ankomme, redet er mit geschlossenen Augen. Manchmal klar, manchmal wirr. „Weisst Du, wo Du bist?“, frage ich ihn. „Siehst Du den grünen Frosch da?“, fragt er mich mit geschlossenen Augen. Nur kurz rebelliert mein sachlich-logisches Gehirn, dann schließe auch ich die Augen. „Ja, Paps, den sehe ich“, sage ich und lege meine Hand auf seine rechte Wange.
Neon!

Alle Lust will Ewigkeit

O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1883-1891)

Neon!

Simplifikation

Simplifikation

„Oberste Prinzipien, Clarice. Simplifikation! Lesen Sie bei Marc Aurel nach. Bei jedem einzelnen Ding die Frage, was ist es in sich selbst? Was ist seine Natur?“. Und ich denke, warum also vorgestern so viele Worte machen um etwas, was ein einfaches Bild hätte präzise zusammenfassen können.
Neon!

But I have promises to keep…

Plötzlich waren sie da. Entluden sich kurz wie ein Blitzlicht in meinem Kopf. Zündeten sofort das bereitwillige Meer der Synapsen, die sogleich neugierig auf die Suche gingen, die Worte und ihre Bedeutung wieder zu finden. Magische Worte aus einem Film, der mich einst in seinen Bann zog:
Des Waldes Dunkel zieht mich an
Doch muß zu meinem Wort ich steh’n
Und Meilen geh’n bevor ich schlafen kann
Und Meilen geh’n bevor ich schlafen kann.

Das vollständige, englische Original von Robert Frost klingt weniger bedrohlich, jedoch nicht weniger schön.
Robert Frost – Stopping by Woods on a Snowy Evening
Whose woods these are I think I know.
His house is in the village, though;
He will not see me stopping here
To watch his woods fill up with snow.
My little horse must think it queer
To stop without a farmhouse near
Between the woods and frozen lake
The darkest evening of the year.
He gives his harness bells a shake
To ask if there is some mistake.
The only other sound’s the sweep
Of easy wind and downy flake.
The woods are lovely, dark and deep,
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.

Und Meilen geh’n, bevor ich schlafen kann…
Neon!

Verpasst

Mist! Damn it! Jetzt hab‘ ich mein Blog-Online-Einjähriges um 20 Tage verpasst und muss nun für extensives Feiern wieder 345 Tage warten. Aber was viel schlimmer ist: Meine Blogfarben passen sich schleichend und unbewusst der Farbgebung des Arax’schen Gruselkabinetts an – und das macht mir Angst.
Sicher werde ich auch bald blaue Zehen haben und Buchpost von Nazis bekommen. Hoffentlich kommt bald Dezember – und ein neues Design.

Reiki im Streichelzoo oder Urschrei beim Kloputzen?

Vorab gesagt: Ich lerne gerne dazu! Ich bin wirklich offen für Vieles! Ich halte mich für einen neugierigen, kosmopolitischen Ausprobierer, ich mag andere Kulturen (z.B. links- wie rechtsdrehende Yakult-Joghurte, oder Anders-„Gelabelte“ im Sportstudio, etc.), bin weltoffen erzogen und verurteile aufs Schärfste das Anbehalten von schwarzen Socken während der „Fortpflanzungsroutine“ des Liebesakts! OK, so weit, so gut! Alles ganz normal bis jetzt!
Und doch gibt es Dinge, da haken sich auch meine Synapse aus! Bzw. sie schließen sich erst gar nicht! Sie weigern sich einfach, sich zu verbinden, Dinge zu akzeptieren und hinzunehmen, die viele als glaubwürdig oder als simples Faktum ansehen.
Mag sein, dass Kornkreisfiguren von Außerirdischen gemacht werden! Ich glaube es nicht! Mag sein, dass Nostradamus und die seltsamen Menschen, die am Bahnhof den „Wachtturm“ verkaufen, den baldigen Weltuntergang vorhersagen! Mag sogar sein, dass ein hypothetischer Lieblingsschutzengel mir einen freien Parkplatz im Stadtkern besorgen kann, wenn ich schnell noch Sushi von meinem Lieblingsjapaner brauche. Schön, schön, vielleicht red’ ich nur falsch mit ihm! Aber das ist ja lange nicht alles!!!
Fühle ich mich tagsüber mal lustlos, erschöpft und gestresst, kommt sicher jemand um die Ecke und bedeutet mir, ich habe die falsche Einstellung zu mir und meinem Leben. Oder mir fehle ein Traumfänger-Windspiel über’m Frühstückstisch! Oder mein Bett stünde wohl grade auf einer bösen Wasserader! Und wenn Feng Shui nicht reichen sollte, bräuchte ich wohl dringend einen Rosenquarz-Heilstein, mit dem ich mich bei einem warmen Tässchen Bachblütentee selbst abreibe, nachdem ich glücklich vom Emotionsmanagement-Seminar zurück bin.
Und wenn ich dann entgegne, das hielte ich aber für etwas übertrieben, dann ernte ich mitleidige Blicke nach dem Motto „Der ist wohl unvollständig reinkarniert worden!“ oder „Bei dem ist das Aura-Foto wohl unterbelichtet geblieben!“. Und ich frage mich dann, warum immer mehr Menschen die Brüche und Probleme in unserer Gesellschaft ins Transzendente verlagern, sich zurückziehen ins private Innere (für Blogger eh irrational) und als höchsten Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Mitwirkung einen gruppendynamischen Lach- und Streichelkurs besuchen. Und dann bezweifle ich auch relativ überzeugt, dass stundenlange Yogaübungen im Schneidersitz, andächtiges Meditieren vor einem Chakra-Fensterbild oder das verzückte Knabbern an Himalaya-Kristallsalzbröckchen (1000gr für nur €9,50) auch nur irgendein wichtigeres Problem lösen.
Aber ich lerne ja gerne dazu! Ich bin wirklich offen für ne Menge! Am Sonntag werde ich daher einen Esoterik-Tag einlegen! Am Vormittag treffe ich die Reiki-Gruppe im lokalen Streichelzoo und nachmittags hab’ ich mein erstes Selbsterfahrungsseminar „Urschrei beim Kloputzen“. Ich hoffe nur, mein persönlicher Verkehrsengel findet einen freien Parkplatz vor der VHS!
Neon!

Done deal

Für interessante Menschen muss man schon mal Commitment zeigen – is klar! Aber dass ich jetzt um 03:22 noch was Geistreiches hier reinschreibe, das geht ja nun mal garnicht. Und da kann sich auch eine Frau Morgenstern mal auf’s Naturhaar stellen. ;) Außerdem ist es verdammt noch mal mehr wert als – sagen wir – eine Anstecknadel in Wappenform, dass man Frau innerhalb eines Tages in meinen Favoriten landet. Und jetzt… geh ich schlafen! More to come…
@ambre – habe gerade noch in deinem Viennale-Bericht gelesen und fühle mich plötzlich mit Kenneth Anger zu etwa 93,5% genetisch verwandt, wenn nicht sogar identisch. Und daher möchte ich dir quasi in seinem Namen sagen: Ja, du hättest aufstehen sollen und eine solo-ambre-standing-ovation vom Zaun brechen müssen. In solchen Situation ist Führungskraft gefragt. Vergiss das Filmkritikseminar – aber lern‘ im richtigen Moment aufzustehen und wild ehrlichen Herzens loszuklatschen! Happiness is a warm gun!
Neon! ;)