The Falling Man

The Falling Man

Der 11.September ist stets ein besonderer Tag für mich. Viele, die ich kannte, und deren Gesicht ich immer noch zurückrufen kann, sind tot: Der lächelnde, schlurfende, ergraute, schwarze Fahrstuhlwächter, die jungen Barkeeper vom Windows on the World, die immer gut gelaunte Frau, bei der ich morgens meist einen Cranberry-Muffin und Orange Juice kaufte.
Von 12 Monaten in New York arbeitete ich 6 Monate im Nordturm des World Trade Centers. Nur wenige Monate, bevor die Türme fielen, kam ich nach Deutschland zurück. Geschenkte Lebenszeit für ein pünktliches Projektende. An jedem 11.September schwirren mir besonders die Bilder der „Jumper“ durch mein Hirn, Menschen, die so verzweifelt und ausweglos waren, dass sie eine letzte mutige Entscheidung in ihrem todgeweihten Leben trafen. Über 200 sprangen aus den obersten Etagen der Türme. Wäre ich auch gesprungen? Ich weiß es nicht – und werde es hoffentlich nie herausfinden müssen.
***
Anzahl der insgesamt getöteten oder vermissten Menschen: 2803
davon Menschen aus dem Nordturm: 1402
aus dem Südturm: 614
Geschätzte Anzahl der Menschen, die vom Nordturm in den Tod sprangen: 200
Geschätzte Anzahl der Menschen, die vom Südturm in den Tod sprangen: 12
Geschätzte Anzahl der Menschen, die in Aufzügen abstürzten oder verbrannten: 200
Anzahl der getöteten Feuerwehrleute, die zur Rettung anderer Menschen in beide Türme aufgestiegen waren: 343
Anzahl der Überlebenden der höchsten Etagen des Südturms: 16
Anzahl der Überlebenden der höchsten Etagen des Nordturms: 0
Geschätzte Anzahl von Litern Kerosin, die beim Aufschlag der Flugzeuge explodierten: 90.000
Geschätzte Anzahl von Grad Hitze der Explosion: 2.000
Anzahl der gefundenen Körperteile: 19.000
Anzahl der gefundenen, vollständigen Körper: 291
Vergangene Zeit vom Einschlag des Flugzeugs bis zum Einsturz des Nordturms: 102 min
Vergangene Zeit vom Einschlag des Flugzeugs bis zum Einsturz des Südturms: 56 min
Anzahl meiner Kollegen, die in beiden Türmen ums Leben kamen: 12
I will never forget.
Neon!

6 Gedanken zu „The Falling Man

    1. NeonWilderness

      Es sind oft die simplen Zahlen, die, obwohl sie nackt und ohne individuelle Geschichte daherkommen, am meisten erschüttern. 212 Jumper, das sind 212 mal je eine einsame Entscheidung, den planbaren und sicheren Tod dem zufälligen, beliebigen Ende vorzuziehen und in auswegloser Situation selbst zu bestimmen, wann man als Mensch verlöscht.

      Man hat berechnet, dass der Sprung aus den oberen WTC Stockwerken etwa 10 Sekunden dauerte. Man hat herausgefunden, dass die Geschwindigkeit des Falls nicht dafür ausreichte, ohnmächtig zu werden, aber für die Garantie, in der Millisekunde des Aufpralls sofort tot zu sein.

      Wenn man von 21 bis 30 zählt, ist das eine sehr lange Zeit. Was haben diese Menschen in der Zeit ihres Falls gedacht, welche Bilder liefen in ihrem Gehirn ab, wissend, dass es ihren Körper in der 10ten Sekunde zerschmettert?

      Die Jumper waren die sichtbarsten und öffentlichsten Opfer an diesem Tag. Sie stehen für die vielen anderen einsamen Tode im Innern der Gebäude.

      „Somebody yelled something was falling. We didn’t know if it was desks coming out. It turned out, it was people coming out, one after the other… we saw the jumpers coming. They were choosing to die.“

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  1. larousse

    In dem Buch „Extrem laut und unglaublich nah“ wird ein fiktives Fallbeispiel (nein, und das sollte KEIN Wortspiel werden…) eines Jungen beschrieben, der seinen Dad an diesem Tag verlor. Das Kind bewart einen Zeitungsausschnitt mit dem Bild eines Jumpers auf und fragt sich die ganze Zeit, ob das wohl sein Dad war. Es ist kein dramatisches, tränenrühriges Buch. Es ist eher nüchtern. Und geht doch wahnsinnig unter die Haut.
    Niemand wird diesen Tag wohl je vergessen, oder was er tat, als ihn die Nachricht erreichte.
    Brrr. I shiver.

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    1. NeonWilderness

      Ich war am 11.09. ab dem Vormittag in einem Meeting in der Nähe von Frankfurt, an dem auch amerikanische Kollegen teilnahmen. Jemand erhielt einen Anruf auf seinem Handy und wir schalteten den Fernseher im Meetingraum des Hotels ein. Nur ein paar Sekunden später sahen wir, wie die zweite Maschine anflog und sich in den Südturm brannte.

      Das bis dahin lebendige Treffen erstarb. Ungläubiges Entsetzen und leichenfahle amerikanische Gesichter. Noch Tage danach war ich wie in Trance.

      Danke für den Buchtipp – schau‘ ich mir mal an.

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