Hochsitz der dunklen Gedanken

Das Leben fließt. Seltsam unbeteiligt gurgelt es in wilden Strudeln um mich herum. Es lacht, es liebt, es lebt, sprudelt in fremder Leichtigkeit. Ich schaue herab von dem Hochsitz, auf den der Tod mich getrieben hat. Wie Treibholz schwimmen die Menschen auf den schäumenden Wellen ihrer kumulierten Lebensaugenblicke und verdrängen jeden Gedanken an ihr Ende, so, als würde es für sie immer so weiter gehen. Und dann, wenn sie doch einen Moment das eigene Nachdenken zu sehr bedrängt, betäuben sie sich mit der uralten, klugen, dummen Illusion des ewigen Lebens im Zuckerwatteberuhigungsdenkmodell ihrer opiaten Wahlreligion.

„Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich – Scheidung und nähere Selbstverbindung zugleich. Durch den Tod wird die Reduktion vollendet.“ (Novalis: Blütenstaub, Fragment N r.14)

So sitze ich auf dem Hochsitz der dunklen Gedanken und versuche, die Bilder von der Aufbahrung aus meinem Kopf zu bekommen. Morgen will ich niederschreiben, dass ich verbrannt werden will, wenn einst mein eigenes Ende kommt. Nichts soll überbleiben und niemand soll erschreckt werden durch den desaströsen Prozess der optischen Entmenschlichung.
Seit ich nicht nur im Bestatterblog von den vielfältigen Stadien der Verwesung, der Selbstverdauung von Mägen, dem Festmahl eigener Bakterienstämme und der rapiden Verflüssigung von Zellgewebe gelesen habe, reifte die Entscheidung schnell, diesen unsäglichen Transformationsprozess für mich zeitlich effektiver zu gestalten. Ich frage mich, ob es nicht für jeden Menschen noch zeitlebens ein befreiendes Gefühl sein könnte und müsste, seinen eigenen gierigen, despektierlichen Mund- und Darmbakterien im Tod ein letztes Schnippchen zu schlagen und ihnen die vorauskalkulierte Selbstverdauung des eigenen Körpers durch geschickte Prozessänderung zu versagen. Nur eine von vielen Entscheidungen, die man besser selbst trifft.
Laut §4 Absatz 1 der „Ordnungsbehördlichen Verordnung über das Leichenwesen“ des Landes NRW muss jeder Tote innerhalb von 120 Stunden beigesetzt werden. Es ist bizarr, mit welcher Geschwindigkeit Angehörige Verstorbener zu den Fragen beflissener Bestatter verbindliche Entscheidungen treffen müssen, die sie doch eigentlich weit wegschieben möchten. Ich habe nie mit meinem Vater darüber gesprochen, welche seiner Kleidungsstücke er gerne im Sarg anhaben würde. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie ein Kranz zu gestalten sei, welche Blumen passend wären und welcher Schleifentext meine Gefühle am besten wiedergäbe. Soll der Kranz aufrecht stehen oder liegen? Soll ein Pfarrer oder Freiredner sprechen? Welche Musik soll gespielt werden? Nein, maximal 2 Stücke; das Ganze muss in 30 Minuten vorbei sein, dann steht die nächste Leiche bereit. Die deutsche Körperentsorgung ist straff organisiert und gut durchgetaktet.
„10 Jahre zu früh!“, sagt meine gefasst wirkende Mutter zu jedem, der ihr am Grab kondoliert. Es wirkt auf mich seltsam distanziert und rational analysierend – aber jeder Mensch trauert anders. Ich schaue jedem fest in die Augen, der meine Hand ergreift. Manche Augen schauen sehr traurig, manche wollen Mut spenden mit einem kleinen Lächeln zu einem festen Händedruck, manche bemühen sich vergeblich um einen zutiefst betroffenen Gesichtsausdruck.
Am Abend stehe ich alleine vor dem aufgeworfenen Grab, richte die Kränze und zupfe an den Schleifen. Ja, ich werde präzise aufschreiben, wie ich es mir vorstelle, werde alle Entscheidungen vorwegnehmen und keine Fragen offen lassen. Und dann ist wieder Zeit zu lachen, zu leben und zu lieben.
Neon!

13 Gedanken zu „Hochsitz der dunklen Gedanken

  1. rinpotsche

    Von meinen Freunden wurde ich heftigst angegriffen, als ich bei einem Gespräch über das Prozedere der eigenen Bestattung erklärte, dass wir innerfamiliär (ohne Partner) einen guten Konzens gefunden haben. Ich brauche für die Vision einen vertrauten, humorvollen Umgang, der mir die schwerlastige Gewissheit von Trauer und Sicherheit vereinbart. Tränen sollen sein, müssen – ich denke dabei oft an ein Referat eines Kollegen, der Stuttgarter Prinz eines afrikanischen Landes wurde, da seine Eltern dort wohlgesehene, humanitäre Hilfe leisteten und sich damit einen Häuptlingsstatus erworben. Als seine Mutter in Deutschland starb, wurde sie traditionell deutsch beigesetzt, aber sie erhielt in Afrika danach eine ausgiebige Feier, die der gemeinsamen Trauer viel eher entsprach.
    Damit will ich nicht sagen, dass ich vor meinem Tod ein Prinzessinnendasein in einem ‚guten Trauerland‘ anstrebe, vielmehr, dass Trauer als etwas zum Leben Gehörendes angenommen wird, und möglichst viel Zelebrieren beinhalten sollte. Wir hier sind unbeholfen, bzw. traditionell reglementiert, denn der Rückzug dabei ist fundamental festgelegt.
    Ich mache mir schon lange Gedanken über ein ’spektakuläres‘ Verabschieden meinerselbst, um den paar Menschen, die auch ein noch so schlechtes Wetter vom Beiwohnen nicht abhalten würde, die Trauer zu erleichtern. Dazu gehört auf jeden Fall eine Einäscherung, aber auch konkrete Vorstellungen von mir, die niemand Liebenden in der Situation alleine lässt!

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    1. NeonWilderness

      Es ist gut und richtig, sich intensive Gedanken über dieses letzte Prozedere zu machen, das die eigene Körperlichkeit verabschiedet. Wie kann man sich zeitlebens in aller Bestimmtheit disponieren und gleichzeitig die Entscheidungen über das große Finale denen aufbürden und abverlangen, die sich doch lieber auf ihre Trauer einlassen wollen?

      Jedoch, für viele Menschen ist die Terminierung der eigenen Existenz eine undenkbare, unleistbare Vorstellung. Ich empfinde diese egoistische Scheu heute als zutiefst nachlässig, ignorant und respektlos gegenüber denen, die die Vielzahl erforderlicher Entscheidungen später in einem schmerzlichen Prozess des Rätselns und Abwägens zermürben und verstören muss.

      Ja, Tränen gehören dazu, und das Zelebrieren gibt Halt und Rahmen für den Abschied. Lange diskutierten meine Schwester, meine Mutter und ich über die Sinnhaftigkeit einer Restauranteinladung nach der Beisetzung. Als der kleine Neon uns schließlich nach dem Leichenschmaus nach Hause fuhr, war er äußerst aufgebracht und sehr erbost über manche Trauergäste, die schon während der Suppe wieder lachten. Ich versuchte, ihm diese uralte Sitte zu erklären, wie sie den Angehörigen und der eigenen Trauer helfen kann, dass es hilfreich sei, sich gemeinsam an schöne Erlebnisse zu erinnern, und dass es nichts Schlimmes ist, im Gedenken an einen Toten zu lächeln und zu lachen. Noch hat er es nicht verstanden, aber ich hoffe, er wird einst über die namenlose Wiese tanzen können, über die meine Asche verstreut werden wird.

      P.S. „Spektakuläres“ finde ich allemal gut! Als Perfektionist spricht alles für ein morbides Brainstorming!

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    2. rinpotsche

      Bei der Trauerfeier meiner Mutter, mit der ich zwar eine tief freundschaftliche Verbundenheit teilte, die aber diesseits nicht lebbar war, empfand ich mehr Angewidertsein über den Ausdruck der Trauernden als dass mich ihr Mitgefühl tragen konnte. Im Gegensatz zum Kleinen Neon hätte ich mir mehr Suppenlachen gewünscht, denn sie war erlöst worden, das wussten alle. Zu dieser Art von tragischem Ausdruck der Trauer bestand also keinerlei Grund, aber es ‚gehörte‘ sich eben so. Ich musste mehrmals mit Brechreiz die Gesellschaft verlassen.
      Ihr Weg des Umgangs mit dem Tod gefällt mir!

      Gruß, Rinpotsche

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    3. NeonWilderness

      Trauerfeiern und Beisetzungen sind einfach ein sehr schwieriges Metier. Alles Erdenkliche kann man im Leben üben: wie man sich eine Krawatte bindet, wie man am besten küsst, oder wann eine Basilikum-Pesto umwerfend schmeckt. Trauerfeiern und Beisetzungen bieten wenig Raum zum Üben. Die Sterbefrequenz im Bekannten- und Verwandtenkreis ist einfach zu gering, um einen nachhaltigen Übungseffekt zu erzielen.

      Daher versuche ich nachsichtig zu sein mit den Menschen, die eigentlich ihre Trauer und ihr Mitgefühl zeigen wollen, aber es nie wirklich gelernt haben, diesen schmalen Grat zwischen tröstender Anteilnahme und peinlicher, dramaturgisch-übersteigerter Tragik kunstvoll, glaubwürdig und ohne Gesichtsverlust zu begehen.

      Hinzu kommt diese starke Reglementierung, das steife, einengende Gerüst für Handlungsoptionen: eine Schüppe Sand oder lieber eine einzelne Blume, wie kondoliert man am Grab, und vor allem wem? Es gibt viel Unsicherheit und wenig Erfahrung in solchen Dingen, Sterben/Tod ist eines der letzten Tabus und damit auch nicht Teil einer erhellenden Erziehung, weder privat noch in der Schule. Am Ende des Tages ist das immer die beste Grundlage für mögliche „epic fails“, über die man in dem Moment nicht mal lachen oder sich aufregen darf.

      Sterben und Tod ist ‚Learning by Doing‘, und mit jedem bitteren Lernereignis reift auch die eigene Begrifflichkeit und Vorstellung darüber. Vielleicht sollte man sich den Besuch von Beisetzungen zum Hobby machen, so wie Maude aus Harold & Maude; nach der 40.sten Beerdigung sieht man Vieles sicher entspannter.

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    4. rinpotsche

      Mit der Maude mögen Sie recht haben, mein Vater ist so eine, und ich nenn‘ ihn schon seit einer Weile einen Beerdigungstouristen. Er selbst meint dazu, dass ihn die Seite mit den Todesanzeigen am meisten aufhält. Scheint ihn irgendwie jung zu halten. Und bis vor einem Jahr konnte ich nur auf Beerdigungen weinen: neben der Trauer über den Verlust boten sie mir die Begegnung mit mir selbst.

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    5. NeonWilderness

      Ich glaube, ich mag Beerdigungstouristen. Und Begegnungen mit sich selbst. Ich konnte an dem Tag erst weinen, als meine kanadische Cousine (welche auch meine erste Jugendliebe ist) den Friedhofsplatz betrat. Sie war extra den weiten Weg aus Ontario gekommen, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen und uns zu umarmen.

      Dieses Commitment, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Wärme… das war ein sehr emotionaler Moment und ich wusste sofort wieder, warum ich mich mit 15 in sie verliebt hatte.

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  2. C. Araxe

    Gut zu wissen, dass die unweigerlichen dunklen Gedanken Sie auf einen Hochsitz getrieben haben und nicht in ein tiefes Kellerverlies.

    Ansonsten schreibe ich mal besser nichts zu der Thematik.

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  3. pathologe

    Meine Oma hatte auch ein vorbezahltes und vorbereitetes Begräbnis. Flambieren und anonym verstreut wollte sie werden und wurde sie. Da muss sich der Angehörige keinen Kopf mehr machen.

    Meine Mutter indes machte noch eine kleine Reise in ihrer Urne bis zum Grab. Da gab es auch viel zu organisieren. Und wir Kinder halfen dem Stiefvater dabei so gut es eben ging.

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    1. NeonWilderness

      Wann genau haben Sie eigentlich den Respekt vor dem Tod verloren, Herr Pathologe? Und womöglich ist das sogar absolut notwendig, um Ihre Arbeit zu tun; oder zumindest ein hilfreicher Schutzfilm.

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