Maschinenzwischenwelt

Es ist etwa vier, als ich meine Hände desinfiziere, durch die Besucherschleuse der Intensivstation trete und eintauche in die Andersartigkeit der Maschinenzwischenwelt. Beharrlich und nie erlahmend vermisst sie das Restleben der ihr anvertrauten Körper und gibt Alarm, wenn einer die Zwischenwelt verlassen will.
Meine Gedanken kreisen noch sehr um die Abizeugnisausgabe vom kleinen Neon. Stolz, Freude, Lachen, Abschied, Tränen, Aufbruch zu neuen Zielen. Und nun stehe ich hier, am Bett meines Vaters, und mein Magen verkrampft angesichts der Anzahl von Schläuchen und Maschinen, die in seinem Körper enden. Jedesmal werden es mehr. Mehr Schläuche, mehr Maschinen – nur die Hoffnung, die wird immer weniger.
Freude und Schmerz. Stolz und Angst. Umarmen und Loslassen. Es ist nicht so, dass ich in meinem Leben nicht bereits eine gewisse Bandbreite an emotionalen Erfahrungen gemacht hätte. Doch Freude und Schmerz so nah beieinander, das ist neu. Und mehr, als ich im Moment gebrauchen kann.
Flink, gewandt und wortlos steckt die Schwester Kanüle um, hängt neue Beutel auf, führt Schlauchenden in gekapselte Körperöffnungen, notiert Messwerte, die sie von den Monitoren abliest. Mein Vater ist nicht bei Bewußtsein. „Ja, er wird noch sediert. Wegen der Intubation, wissen Sie?“, sagt die Schwester, während mein Blick auf dem dickeren Schlauch ruht, der in seinem Hals verschwindet.
Ruhig spricht sie über die septische Einschwemmung, die noch ansteigenden Entzündungswerte, den Verlauf der 4. Krebs-OP, die doppelläufigen Stoma und die Bluttransfusionen. Mein Blick fällt durch die Glaswand ins Nebenzimmer. Eine junge Frau liegt apathisch, mit offenem Mund und angsterfüllten Augen in ihrem Bett. Ein kleiner Teddy liegt neben ihrem Kopf, ihr Freund hält ihre Hand, spricht leise mit ihr. Ich wende meinen Kopf weg, weil ich die Intimität dieses Moments nicht verletzen will.
Von irgendwo dringt gedämpfter Jubel. Der Kopf einer Schwester taucht im Türkreuz auf: „Deutschland führt 1:0 gegen England“, flüstert sie ihrer Kollegin in den Raum. Sie nickt verstehend, während sie Salbe auf die Lippen und in die Augen meines Vaters streicht. Es scheint, der Tod hat sein Spiel nur ein paar Wochen unterbrochen. Der Krebs ist nicht mehr aufzuhalten, hat nun keinen Gegner mehr.
„Konnten Sie heute schon mit der Ärztin sprechen?“, sagt die Schwester. Ich schüttele leicht meinen Kopf. „Wir müssen wahrscheinlich Mitte der Woche einen Luftröhrenschnitt machen – wegen der weiteren Intubation, wissen Sie? Könnten Sie das bitte mit Ihrer Mutter besprechen, wegen des OKs?“.
Von draußen strömt erneut leiser Jubel in das Zimmer. Deutschland führt 2:0. Er hatte sich so auf dieses Spiel gefreut. Nicht mal das ist ihm gegönnt. „Können Sie uns nun ein paar Minuten alleine lassen?“, sage ich in die Stille. Die Schwester nickt. Es ist Zeit geworden, ihm für so unendlich Vieles zu danken. Ich bin sicher, er hört meine Worte.
Neon!

12 Gedanken zu „Maschinenzwischenwelt

  1. Monsterkeks

    Ähnliches ist hier „in meiner näheren Umgebung“ vorletzte Woche geschehen. Die Löcher, in die man fallen kann sind so tief. Selbst als nicht direkt betroffener und nur mitlesender Mensch weine ich mit.

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  2. wencke (Gast)

    ich wünsche ihnen viel kraft für das, was vor ihnen liegt – fühlen sie sich feste gedrückt und gehalten!

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    1. Eugene Faust

      Memento!

      Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
      nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
      Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

      Allein im Nebel tast ich todentlang
      und lass mich willig in das Dunkel treiben…
      Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

      Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr
      – und die es trugen, mögen mir vergeben.
      Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
      doch mit dem Tod der andren muss man leben!

      Mascha Kaléko

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