„Scheiß Paris!“

„Scheiß Paris!“, sagt mein Vater und lässt sich schwer atmend in den blassgrünkarierten Fernsehsessel fallen, der auf meine Augen wie ein schmerzender Stachel im Fleisch des restlichen Wohnzimmers wirkt. Ächzend beugt er sich im Sessel nach vorne um seinen verkratzten, schwarzen Holzstock gegen die schwere Granittischplatte zu lehnen. „So viele Pläne hatte ich noch“, sagt er traurig, und schaut mich müde aus den nicht ganz geöffneten Augen an.
In den letzten Wochen und Monaten hört man ihn oft „Scheiß Paris!“ rufen und obwohl ich immer noch nicht weiß, was es exakt bedeutet, spüre ich die Verzweiflung in seiner trockenen Stimme und die Bedeutung dessen, was er damit sagen will, sehr genau.
„Weißt du, ich vergesse jetzt viel“, murmelt er und kramt nervös in der Tischschublade nach den Xeloda. „Wo sind meine Tabletten?“, ruft er quer durch die Wohnung und aus der Küche schallt ein „Die hast du doch schon vor 2 Stunden genommen!“ zurück.
Er grummelt leise vor sich hin, dann richtet sich sein Blick wieder auf mich. Ein Lächeln huscht über seine Lippen: „Was machen die Aktien?“, fragt er und guckt spitzbübisch. „Gut, gut“, antworte ich aufmunternd, „das war eine prima Entscheidung, im März fünf Deutsche Bank Aktien für deine Enkel zu kaufen“. „Bestimmt sind wir bald Millionär“, sagt er zufrieden. Ich überschlage kurz, dass der Kurs dafür noch um ca. zweihundertzweiunddreißigtausendfünfhundertachtundfünfzig Prozent steigen muss, aber sage nur „Nana Paps, ich glaube, das braucht wohl noch etwas Zeit“.
„Nächste Woche bekomme ich ein Hörgerät“, sagt mein Vater und schaut etwas verdrießlich. „Ich hoffe, man sieht es nicht so. Das wäre nicht gut, wenn die anderen sehen, dass ich ein Hörgerät brauche. Deine Mutter hat darauf bestanden, weil ich den Fernseher immer so laut stelle“, sagt er und wirft einen unzufriedenen Blick in Richtung Küche. Stille.
„Es ist noch zu früh dafür“, sagt er resignierend, „ich hatte noch so viel vor“. Und obwohl ich weiß, dass er nicht das Hörgerät meint, sage ich „Du wirst staunen! Die haben eine unglaubliche Entwicklung gemacht in den letzten Jahrzehnten. Da müssen wir ja am Ende noch aufpassen, was wir sagen, wenn du dann alles hören kannst“. Lächelnd schließt er die Augen.
Ich stehe leise auf und hole unten auf der Straße die Wasserkästen aus dem Auto, bringe sie in den Keller, nehme ein paar Flaschen mit hinauf. Als ich mich wieder auf’s Sofa setze, schlägt er die Augen auf. „Stell dir vor, gestern konnte ich gehen wie ein junger Gott. Aber heute… …fühl ich mich ganz schwach …und mir ist so kalt …kannst du mir eine Decke holen?“.
Vorsichtig lege ich die Decke um seine Schultern. „Hast du die Aktienkurse gesehen?“, fragt mich mein Vater. „Ja, sind gut gelaufen“, antworte ich abwesend.
Gedankenverloren schaut er aus dem Fenster. „Nach Mallorca wollte ich im Herbst“, sagt er leise. „Aber dafür fehlt mir jetzt die Kraft.“
„Scheiß Paris!“, sage ich. „Ja, scheiß Paris!“, sagt mein Vater.
Neon!

12 Gedanken zu „„Scheiß Paris!“

    1. NeonWilderness

      Ein wirklich schöner Film. Man mag manchmal die fehlende Sensibilität oder Einsicht eines jüngeren Menschen bedauern und vermissen, aber letztlich ist Sorglosigkeit ein kostbares (und bewahrenswertes) Privileg der Jugend. Die Erkenntnis, dass es einen irgendwann auch selbst betrifft, kommt eh viel zu früh.

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    1. NeonWilderness

      Fast kaum zu glauben, dass es nur eine Eindeutschung von „Chez Paris“ darstellt. Seltsamerweise habe ich es früher nie von ihm gehört. Aber vielleicht dominiert nun das Gehörte und Erlernte aus ganz ganz jungen Jahren sein Denken. Ich werde ihn doch mal danach fragen…

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    2. NeonWilderness

      Na immerhin hatte ich eine, Herr Mahakala, während Sie bestimmt Ihren 2.ten Knigge-Bildungsabschluss über die Kölner VHS machen müssen. ;) Ihnen auch schöne Grüße, mein Lieber!

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