Von falschen Fahnen und wichtigen Greencards

Wenn dein Auge auf das Bild sieht, ist es versucht, an Fußball zu denken. Oft neigt der Verstand zur einfachen, nahe liegenden Erklärung. Aber das wäre sehr falsch. Diese Fahne weht aus anderen Gründen.
Heute Nachmittag besuchte ich meinen Vater in seinem Schrebergarten. Als kleiner Junge war er für mich der stärkste Vater von allen. Sein Leben lang arbeitete er hart und schwer, und wenn es überhaupt jemanden gibt, der alles gut und richtig gemacht hat in seinem Leben, dann ist er das.
Als vor ein paar Jahren die schweren Operationen begannen, bewunderte ich ihn noch mehr für seine Stärke, die unausweichlichen Leiden zu ertragen, seinen Willen, das Leben auf keinen Fall herzugeben, seinen Optimismus, das alles wieder gut würde. Monate über Monate lag er auf Intensivstationen – und ich versorgte ihn mit Internet-Dossiers über seine Krankheiten bis er mehr wußte als seine Ärzte. Irgendwann, endlich, schien die böse Serie abzureissen.
Wie oft kann man mit dem Tod Poker spielen und gewinnen? Wieviele Lethalprognosen kann man in einer Strecke überleben? Warum bekommt ein Mann, der schon weit mehr aushalten musste, als die meisten anderen Menschen in ihrem ganzen Leben ertragen müssen, nicht eine höchstgöttliche Gesundheitsgreencard? Irgendeine beschissene Wolke, die sich auftut und eine möglichst allmächtige Stimme, die sagt: „Du hast jetzt genug gelitten. Du bist raus aus meinem Schmerzspiel“. Aber diese Stimme ertönt niemals. Und das Leben ist nicht gerecht.
Heute, im Garten, traf ich zum ersten Mal einen ängstlichen Mann. Er hat diese Woche erfahren, dass er Lympfknotenkrebs hat. Und er fragt sich, wieviele Spiele er noch gewinnen kann. Und dann sagt er: „Wir müssen nochmal reden, bevor ich wieder ins Krankenhaus gehe“. Und sein Blick verliert sich. Das macht mir Angst.
Nach einer Weile sage ich in die Stille: „Lass uns zusammen die spanische Flagge hissen, einfach, um deine Gartennachbarn zu ärgern, bevor das Finalspiel beginnt“. Und er lacht mich an. Spitzbübisch. Und für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Genug Sekunden für ein Foto von einer spanischen Flagge, die mutig im Wind weht.
Neon!

9 Gedanken zu „Von falschen Fahnen und wichtigen Greencards

  1. pathologe

    Hoppala. *stelltzynismuskurzab*

    Klingt gar nicht gut. Kenne ich. Und geht selten gut aus. Sorry.

    *zynismuswiederan*

    Hatten Sie genug Sangria, um nach dem Spiel die Schrebergartennachbarn ruhig zu stellen? Oder waren diese so echauffiert, dass Ihr Vater auf einmal eine einzige, lange Fackel im Garten stehen hatte?

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    1. NeonWilderness

      Ich glaube, dass mein Vater, so wie Ihre Mutter, es einst genau wissen wird, wenn seine Zeit gekommen ist. Es gibt Menschen, denen kann man nichts vormachen. Sie kennen sich und ihren Körper genau. Ich hoffe, ich kann dann bei ihm sein.

      Re Fackel: Hm, ich sollte gleich mal anrufen zur Klärung der Situationsanalyse der spanischen Fahne. Da Schrebergartenbesitzer jedoch sehr „laid back“ sind, rechne ich nicht mit akuter Mastverbrennung.

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    1. NeonWilderness

      Schrebergärtner zünden niemals Feuerwerke. Das könnte nämlich Bäume, Büsche und Gartenteiche in Mitleidenschaft ziehen. ;)

      Ich habe keine Ahnung, wieviel Kraft man braucht, um nach so langer Behandlungszeit wieder ins Krankenhaus zu gehen, wissend, was sie dort tun werden, nicht wissend, wie der vorgeschwächte Körper damit umgeht. Ich glaube, dass es sehr viel Kraft dafür braucht. Mehr als ein „Flagge zeigen“ geben kann.

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  2. Chinaski

    Ich wünsche ihm körperliche Nähe. Am ende gehen die Menschen der industriellen Gesellschaft eher an Mangel an Liebe und Nähe zugrunde. Wenn du bei ihm bist, schmieg dich an ihn, wenn er noch einen steifen bekommt sorg dafür dass er unbedingt eine vertraute Person penetrieren kann, eine Person die ihn mag und bereit ist ihm Freude zu bereiten ohne etwas zurück zu verlangen.

    Menschen geben diese Dinge sehr sehr selten zu. Ihnen fehlt letztenendes die Körperliche Nähe und die Wärme. Gehen müssen wir alle, sorg nur dafür dass er bis zuletzt körperlich befriedigt ist.

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