Archiv der Kategorie: Außergewöhnliches

Fotografiesucht


BP British Art Displays 1900-2009 Photography Sarah Lucas / Gillian Wearing
„Self-Portrait With Fried Eggs“

Seltsam. Seit ich diese Fotografien am Sonntag im Tate Britain sah, gehen sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Irgendetwas an dieser Frau zwingt mich, über sie nachzudenken. Ist es ihre depressive Verletztheit oder die Aggressivität ihrer visuellen Konfrontation?


BP British Art Displays 1900-2009 Photography Sarah Lucas / Gillian Wearing
„Human Toilet Revisited“

Neon!

Eiskalte Glücksgefühle

Ich bin ein mysteriöses Bündel seltsamer chemischer Prozesse. Manche davon würde ich gerne besser verstehen. Ein Beispiel: Wenn ich mich im Fitnessclub Vitalstudio meines Vertrauens nach etwa zweieinviertel Stunden intensiver Muskelquälerei in die finnische Sauna begebe und dort so richtig hochglühe, mich dann eiskalt unter der Schwalldusche abschrecke, habe ich, während ich entspannt auf einer Liege ruhe, intensive Glücksgefühle.
Nicht etwa so ein banales, platonisches Zufriedenheitsgefühl, das man ja zu Recht haben dürfte, wenn man stundenlang gegen seinen inneren Schweinehund und alle eisenhaltigen Geräte im Studio angekämpft hat. Nein, Ströme von Glück wabern durch mein peripheres Nervensystem, verästeln sich neugierig in 43 Nervenpaaren, saturieren auf dem Weg mein Medulla Spinalis und lassen Interneurone und Motoneurone eine wilde Party feiern.
Ich vermute, die Hitze der Sauna in Verbindung mit der genetisch programmierten Urangst des Menschen, elendig zu verbrennen, aktiviert hormonelle Botenstoffe (z.B. Adrenalin), die dann bei der glücklichen Rettung durch die eiskalte Schwalldusche flugs zu Dopamin umgebaut werden. Jedenfalls bei mir.
Dann sprang mich ein seltsamer Gedanke an: Ob Eier wohl genau so empfinden, wenn sie gekocht und dann abgeschreckt werden? Ich möchte gerne daran glauben, weil ich lieber glückliche Eier von glücklichen Hühnern esse, die von gewaltfrei aufgezogenen Bauern freilaufend gehalten werden.
Am kommenden Samstag werde ich mich versuchsweise nach fünfeinhalb Minuten des Kochens mit sanfter Stimme an das Ei wenden: „Hey, Du, ich weiß genau, wie Du dich gerade fühlst. Ich kenne das. Noch ist Dir furchtbar heiß, aber warte, bis ich Dich gleich unter eiskaltes Wasser halte. Das wird Dir wirklich gefallen!“.
Wenn ich dazu noch James Brown’s „I feel good“ auflege, wird es ein unvergessliches Erlebnis für das Ei werden. Sicher wird es diesen respektvollen Umgang zu schätzen wissen. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, wo es in meinem Mund verschwindet.
Neon!

Der Kampf-Labbi-Pinkel-Control-Override-Modus

Chuck Norris Kampf-Labbi

Zu Ehren und Aufmunterung von Frau Monsterkeks gibt’s heut Hunde-Content! ;)
Mein Hund ist ein eiskaltes, gnadenloses Tier. Mein Hund ist ein Kampf-Labbi der Chuck-Norris-Klasse. Mein Hund schläft bei Licht. Nicht, weil er Angst vor der Dunkelheit hat, sondern weil die Dunkelheit Angst vor ihm hat. Wenn mein Hund Lust auf Süßes hat, ißt er kein Leckerli, er lutscht Bienen. Wenn es ihm gefällt, kaut er zum Frühstück auf Glasscherben. Anstatt auf dem Nachbarskind.
Mein Hund hört auf’s Wort. Mein Hund hat eine Navy Seals Ausbildung in einer Düsseldorf Hundeschule genossen. Wenn ich es ihm befähle, flöge er nach Tora Bora und würde Bin Laden in 30 Minuten finden. Er könnte auch Global Warming stoppen. Oder die Welt retten. Mein Hund ist sozusagen Steven Seagal auf 4 Beinen.
Kürzlich jedoch entdeckte ich eine Schwachstelle an ihm, die wir beide seitdem geheim halten. Mein Hund hat einen Pinkel-Command-Override-Modus. Normalerweise genügt ein kleiner Pfiff von mir, und mein Hund geht in den Handstand, gleitet elegant in einen einfachen Salchow über, springt einen doppelten Rittberger und endet mit einem dreifachen Toeloop, während er im Flug Brombeeren für mich gepflückt hat.
Jedoch, wenn er sie im Pinkelmodus ist, dann kann ich pfeifen, bis mir das Rückenmark ins Gehirn schießt. Ohne jede Wirkung. Der Hund hat nämlich einen äußerst kritischen Command-Override-Modus, der ihn temporär alles vergessen lässt. Wenn sie sich also breitbeinig hinhockt, um ihre „Chuck Norris was here“-Markierung zu hinterlassen und dabei ein Gesicht macht, das eine seltsame Mischung aus Steven Seagal und Bernhard Hoëcker darstellt, überschreibt der Pinkeltrieb alle erlernten Prozessabfolgen.
Ich werde mich darauf konzentrieren müssen, ihr das abzugewöhnen. Sollte sie eines Tages in Afghanistan vor Tora Bora pinkeln müssen, könnte Bin Laden in genau dieser Zeit entkommen. Dann würde Steven Chuck Norris-Seagal, mein Hund, wahrscheinlich in Schimpf und Schande aus den Navy Seals ausscheiden müssen. Und dann könnte sie nicht mehr Präsidentin der USA werden. Was wir im Übrigen fest eingeplant haben für den 20. Januar 2013.
Neon!

Turn me over, Selly

Selly

Nicht jeden Tag kommt es vor, dass man in den Weiten des Webs durch eine Türe fällt, hinter der ein besonderes Kleinod auf einen wartet. Ich weiß nicht mehr, nach was ich gerade gegoogelt hatte, aber irgendwie kam ich hierher, sah auf das erste Bild des Films und hatte das unstillbare Verlangen, ihn anzusehen.
Die Dinge entwickeln sich langsam. Ein tropfender Wasserhahn. Zettel mit Erinnerungen, Notizen an dich selbst. Eine unzählbare Menge von Streichhölzern in einem Spülbecken. Anweisungen an den nächsten Morgen. „Would you like to see me doing it?“, fragt Selly’s Frau und lächelt beim Tanzen wie ein junges Mädchen. Der Mensch ist so wunderbar traurig anpassungsfähig. Auch an die täglichen Massaker des Älterwerdens. Durch das Erfinden von Gegenstrategien als Antwort auf das fortgesetzte erzwungene Loslassen von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Im Erkennen des Verzichts und Verlusts schafft er sich neue Wege des Überlebens und Bestehens. Ich glaube, das ist die positive Nachricht dieses bewegenden 10-min-Films.
Die andere Nachricht ist die des drohenden Scheiterns. Dass eine Welt, die man sich in gutem Glauben eingerichtet hat, von einer Sekunde zur Nächsten gefährlich schnell scheitern kann. Dass äußere, banale Einflüsse das wackelige, fragile Gerüst eines eigenen vorsichtigen Lebensentwurfs mit einem Wimpernschlag an die Schwelle des Scheiterns bringen können. Wo und wie werden wir enden? Du. Und ich. Verloren, mit einem leeren Sack Haferbrei auf einer viel befahrenen Stadtstraße – und keiner nimmt Notiz?
Eine Metapher. Nichts mehr. Und doch, wer, der diesen Film heute sieht, kann ausschließen, dass er in den Spiegel der Zukunft gesehen hat?
Neon!

Selly from wartezenstein on Vimeo.

Zuckersüße Unschuld vom Land

Zuckersüße Unschuld vom Land

„Ich heiße Beta“, ruft Sie mir hinterher. „Beta Vulgaris“, ergänzt Sie und zwinkert auffordernd. Viele würden wohl sofort meinen, sie sei etwas zu gut proportioniert obenrum, aber ich fand, ihr stand das ganz OK. Und wie sie so daliegt und mich vulgär-direkt anschaut, fackel ich gar nicht lange, und sage: „Dann komm mal mit, Zuckerpüppchen. Obwohl wir uns noch kein bißchen kennen, werden wir schon Spaß miteinander bekommen!“.
Sie ist ein ganz schön schmutziges Ding, die Kleine, kommt offensichtlich vom Land, und ich muss sie erst mal duschen und trockenreiben, bevor sie soweit ist, dass ich sie mit Anderem, ihr noch völlig Unbekanntem vertraut machen kann. Auf den ersten Blick sieht man ihr nicht an, dass sie ihre besten Tage hinter sich hat, aber trotzdem hat sie für mich etwas Neues, Unerschlossenes, Unschuldiges, das mein Interesse regt. Ja, sie hat meine Neugierde geweckt.
Während sie es sich lasziv auf dem Tresen bequem macht, denke ich darüber nach, wie ich sie so heiß machen kann, dass sie mir wirklich völlig verfällt, wie weiches Mus in meinen Händen wird, freiwillig alles gibt und ihren letzten Tropfen süßer Lust aus sich herauspresst.
„Na dann helf‘ ich Dir am besten erst mal, Dich aus Deinem braunen Kleidchen zu schälen“, flüstere ich ihr zu, vielleicht etwas zu direkt, aber sie scheint diese Sprache durchaus gewöhnt zu sein und entgegnet zuerst nichts. „Du bist zuckersüß“, haucht Sie plötzlich, während meine erfahrenen Finger über ihre Haut gleiten und ich antworte höflich „Du aber auch!“, während ihre eng anliegende Hülle nach und nach zu Boden fällt.
„Irgendwie schmeckst du noch ein wenig lehmig“, sage ich, nachdem ich meine Lippen zur Erkundung über ihren Rücken geschickt habe. „Ich glaube, ich bin noch nicht heiß genug“, flüstert sie etwas vorwurfsvoll und spornt mich zu Höchstleistungen an. Ich bearbeite sie ausgiebigst und mache ihr weiter Feuer unter’m Hintern. „Ich schmelze in Deinen Händen“, haucht Sie, ganz Unschuld vom Lande, aber bereits sehr feucht und wachsweich.
Langsam und erwartungsvoll tauche ich meine Finger in sie. „Du schmeckst süß wie Sirup“, rufe ich ihr zu, aber sie ist längst woanders und hört mich kaum noch. „Ich werde nun etwas Druck ausüben“, sage ich. Das gibt ihr wohl den Rest, weil es nun beginnt, nur so aus ihr herauszulaufen. Das war wohl genau das, was sie brauchte, um nichts mehr zurückzubehalten und wirklich alles gehen zu lassen.
„Wow“, keuche ich, „für’s erste Mal schon gar nicht schlecht“. „Ich fühle mich wie ausgepresst“, sagt sie erschöpft, „ich hab‘ auch wirklich alles gegeben“. „Ich freu mich auf’s nächste Mal, du Süße“, sage ich cool, aber sie ist zu fertig, um noch antworten zu können.
Neon!

The Falling Man

The Falling Man

Der 11.September ist stets ein besonderer Tag für mich. Viele, die ich kannte, und deren Gesicht ich immer noch zurückrufen kann, sind tot: Der lächelnde, schlurfende, ergraute, schwarze Fahrstuhlwächter, die jungen Barkeeper vom Windows on the World, die immer gut gelaunte Frau, bei der ich morgens meist einen Cranberry-Muffin und Orange Juice kaufte.
Von 12 Monaten in New York arbeitete ich 6 Monate im Nordturm des World Trade Centers. Nur wenige Monate, bevor die Türme fielen, kam ich nach Deutschland zurück. Geschenkte Lebenszeit für ein pünktliches Projektende. An jedem 11.September schwirren mir besonders die Bilder der „Jumper“ durch mein Hirn, Menschen, die so verzweifelt und ausweglos waren, dass sie eine letzte mutige Entscheidung in ihrem todgeweihten Leben trafen. Über 200 sprangen aus den obersten Etagen der Türme. Wäre ich auch gesprungen? Ich weiß es nicht – und werde es hoffentlich nie herausfinden müssen.
***
Anzahl der insgesamt getöteten oder vermissten Menschen: 2803
davon Menschen aus dem Nordturm: 1402
aus dem Südturm: 614
Geschätzte Anzahl der Menschen, die vom Nordturm in den Tod sprangen: 200
Geschätzte Anzahl der Menschen, die vom Südturm in den Tod sprangen: 12
Geschätzte Anzahl der Menschen, die in Aufzügen abstürzten oder verbrannten: 200
Anzahl der getöteten Feuerwehrleute, die zur Rettung anderer Menschen in beide Türme aufgestiegen waren: 343
Anzahl der Überlebenden der höchsten Etagen des Südturms: 16
Anzahl der Überlebenden der höchsten Etagen des Nordturms: 0
Geschätzte Anzahl von Litern Kerosin, die beim Aufschlag der Flugzeuge explodierten: 90.000
Geschätzte Anzahl von Grad Hitze der Explosion: 2.000
Anzahl der gefundenen Körperteile: 19.000
Anzahl der gefundenen, vollständigen Körper: 291
Vergangene Zeit vom Einschlag des Flugzeugs bis zum Einsturz des Nordturms: 102 min
Vergangene Zeit vom Einschlag des Flugzeugs bis zum Einsturz des Südturms: 56 min
Anzahl meiner Kollegen, die in beiden Türmen ums Leben kamen: 12
I will never forget.
Neon!

Unwissenheit ist eine Gnade

2.Tag
Du sitzt, noch ganz schwach, seitlich auf deinem Krankenhausbett im Dreierzimmer, als ich durch die Tür in das diffus beleuchtete Zimmer trete. Mehr als 4 Stunden hat diese zweite Krebs-OP gedauert. Still sitzen wir uns gegenüber und ich höre mich sagen: „Hey, dein schwarzer Slip wirkt ganz schön sexy zu den weißen Venenstrümpfen – die solltest du mal auf einer deiner Gartenpartys tragen“. Müde huscht ein abwesendes Lächeln über dein Gesicht. Wie gerne würde ich dir die Schmerzen im Bauch abnehmen.
7.Tag
Das Fieber kommt und geht. Dein Bauch ist angeschwollen. Die Ärzte wissen nicht, was es ist. Du übergibst dich quer durchs Zimmer und schaffst es schwer atmend zum Waschbecken, wo es nicht aufhören will. Die Schwester schreit: „So geht das aber nicht, das verstopft ja alles“. Ich überlege einen Moment zu lange, ob ich sie gleich erwürge oder ihr erst einen vollen Infusionsbeutel in ihren Hals stopfe – da ist sie auch schon aus dem Zimmer geflüchtet.
9.Tag
Man hat dich verlegt in einen anderen Raum, in dem du nun alleine liegst. Gerade will ich die Klinke niederdrücken, als mich eine neue Schwester lautstark zusammenfaltet, ob ich das Schild nicht lesen könne. Der MRSA Keim in deinem Blut erfordert es ab jetzt, das ich Einmalhandschuhe, Schutzkittel und Mundschutz trage, wenn ich dich sehen will. „Sowas passiert, wenn man im Krankenhaus ist“, sagt der müde aussehende Stationsarzt.
12.Tag
Sie haben die Krankenakte nicht richtig gelesen und dir trotz Allergie eine Penicillin-Lösung verabreicht. Innerhalb von 10 Sekunden reagiert dein mit Infusionsleitungen verdrahteter Körper schockartig, du stehst auf und zitterst am ganzen Körper, bis dir die Beine wegbrechen.
3.Woche
Dein Bauch schwillt nicht ab. Dafür werden deine Beine und Füße dicker. Immer mehr Wasser sammelt sich in deinem Körper. Ich habe heute gelernt, was Albumin ist, warum es hilfreich ist in Bezug auf kolloidosmotischen Druck, und was es bedeutet, wenn die Leber beschlossen hat, sich selbst destruktiv umzubauen während die Niere schon einen Stent hat.
4.Woche
Die Wirksamkeit des Penicillin-Ersatzes ist bescheiden. Sie pumpen dich voll mit wasserausscheidenden Tabletten, die Leber und Niere noch weiter belasten. Je tiefer ich in die Welt der Medizin eintauche, um ein wenig zu verstehen, was passiert, desto mehr wundere ich mich, dass sogar mein Körper bislang so problemlos funktioniert hat. Es gibt so unendlich viele Dinge, die plötzlich schief gehen können, dass es einen graust. Unwissenheit kann eine verdammte Gnade sein. Jeder einzelne Tag des fehlerfreien Funktionierens dieses hochkomplexen Mechanismus, den wir Körper nennen, ist in Wahrheit ein unfassbares, nicht nachvollziehbares Wunder.
5.Woche
Du solltest schon längst mit der palliativen Chemotherapie begonnen haben, aber die Ascites und die schlechten Blut-, Leber- und Nierenwerte lassen das nicht zu. Die Leukozytenwerte und damit dein Immunsystem sind auf all-time-low – jede simple und für Normalmenschen ungefährliche Infektion ist ein immenses Risiko. Ich hasse das schrille Piepen des Heparin-Perfusors, wenn die automatische Spritze der Umwelt ihren Leerstand mitteilt.
6.Woche
Das Wasser in deinem Körper ist weniger geworden und du hast begonnen, jetzt täglich 10 Tabletten Xeloda zu nehmen. Du hast anfangs fürchterlichen Durchfall, aber entgegen der Vorwarnung löst sich die Haut deiner Handinnenflächen nicht ab – das ist gut. Es gibt Situationen im Leben, da feiert man Erfolge etwas kleiner.
7.Woche
Du hast dem Arzt gesagt, dass du nach Hause möchtest – und sie lassen dich endlich gehen. Zuhause gibst du mir deinen Entlassungbericht. Dort steht ganz nebenbei, dass die „Resektionsränder der Arteria iliaca an der Aortenbifurkation leider nicht ganz tumorfrei“ seien. Du sagst: „Kannst du mal im Internet nachsehen, was das heißt?“. „Ja, das mache ich“, sage ich und wische mir alleine im Auto die Tränen von der Wange. Zu tief habe ich schon gegraben, als das ich nicht schon weiß, was das bedeutet. Unwissenheit kann eine große Gnade sein. Und für einen kurzen Moment wünsche ich mir, dass mich jemand von der Verantwortung dieses Wissens entbinden möge.
Neon!

Junge Lippenbekenntnisse

Lippenbekenntnisse

Vielleicht blitzt diese Erinnerung durch mein Gehirn, weil es heute so heiß war. Es ist schon einige Zeit her, als ein Freund diese Ausbildung bei einem bekannten Düsseldorfer Textil-Familienunternehmen begann. Oft beklagte er damals, es sei eine harte Ausbildung. Er sagte „Wenn du eine Filiale leiten willst, musst du alles im Haus kennen.“. Und dass sie einen in alle Abteilungen schickten. Und manchmal auch tiefer unter das Haus, als feine, subtile Strafe, wenn du etwas nicht gut gemacht hast. Tief hinunter in eine andere Welt, dort, wo es nicht mehr sauber und adrett herging und die Verkäuferinnen keine schwarzen, knielangen Röcke mit weißen, gestärkten Blusen mehr trugen. Dorthin, wo du ganz alleine warst, mit der Schaufel, und dem Dreck.
Er rief mich an und fragte, ob ich ihn besuchen wolle. Eine unterdrückte Aufregung flatterte in seiner Stimme, so, als wolle er mich in ein großes Geheimnis einweihen. Ich war 17 und das Vibrato in seiner Stimme macht mich neugierig. Er schien irgendetwas entdeckt zu haben in dieser anderen Welt, das sehr aufregend sein musste.
Er redete kaum, als ich ankam. Wortlos nahm er mich beiseite, führte mich in die Unterwelt, ein paar Treppen hinunter, durch einige Türen hindurch, bis wir schließlich unter dem Eingang der Filiale standen. Wenn man nach oben blickte, sah man Tageslicht und ein riesiges Trittrost über das Unmengen von Käuferbeinen in die Filiale hasteten. Eigentlich hatte er den Auftrag, den angesammelten Dreck unter dem Rost zu entfernen. Unmengen von Zigarettenkippen, Kaugummiresten und Papierchen warteten dort darauf, mit einer Schaufel entsorgt zu werden. Es war heiß hier unten. Kein Ort, wo man sich länger aufhalten mochte.
„Nun schau doch!“, flüsterte er, während er nach oben sah, die Zigarettenkippen und seinen eigentlichen Strafauftrag ignorierend. Also blickte ich länger nach oben und erkannte plötzlich, was er meinte. 1, 4, 7, 11, Dutzende von Frauen gingen über das Rost – und sie hatten keinen Slip an. Mein erstaunter Blick traf seine Augen, und er nickte mir bestätigend zu. Niemand wagte, auch nur ein Wort zu sagen. In ungläubiger, stiller Begeisterung führte ich im Kopf eine Strichliste über die wievielte Frau, die im Rock und ohne Höschen in die Textilfiliale eilte, um eines der vielen Sonderangebote zu ergattern.
„Kannst du mir einen Job besorgen in den Sommerferien?“, flüstere ich, den Blick nicht eine Sekunde abwendend vom heiligen Gitterrost mit den göttlichen Einblicken. „Ich versuch’s“, haucht er zurück, während die Lippen von Frau Nummer #41 über den Rost schweben.
Leider hat es nie geklappt mit einem Ferienjob unter dem Filialeintrittsrost. Aber ich habe das nie bedauert, denn ich kenne nun das Geheimnis – ja, ich habe die Wahrheit gesehen. Und weiß seitdem, was Frauen bei höheren Temperaturen als erstes weglassen.
Neon!

Von falschen Fahnen und wichtigen Greencards

Wenn dein Auge auf das Bild sieht, ist es versucht, an Fußball zu denken. Oft neigt der Verstand zur einfachen, nahe liegenden Erklärung. Aber das wäre sehr falsch. Diese Fahne weht aus anderen Gründen.
Heute Nachmittag besuchte ich meinen Vater in seinem Schrebergarten. Als kleiner Junge war er für mich der stärkste Vater von allen. Sein Leben lang arbeitete er hart und schwer, und wenn es überhaupt jemanden gibt, der alles gut und richtig gemacht hat in seinem Leben, dann ist er das.
Als vor ein paar Jahren die schweren Operationen begannen, bewunderte ich ihn noch mehr für seine Stärke, die unausweichlichen Leiden zu ertragen, seinen Willen, das Leben auf keinen Fall herzugeben, seinen Optimismus, das alles wieder gut würde. Monate über Monate lag er auf Intensivstationen – und ich versorgte ihn mit Internet-Dossiers über seine Krankheiten bis er mehr wußte als seine Ärzte. Irgendwann, endlich, schien die böse Serie abzureissen.
Wie oft kann man mit dem Tod Poker spielen und gewinnen? Wieviele Lethalprognosen kann man in einer Strecke überleben? Warum bekommt ein Mann, der schon weit mehr aushalten musste, als die meisten anderen Menschen in ihrem ganzen Leben ertragen müssen, nicht eine höchstgöttliche Gesundheitsgreencard? Irgendeine beschissene Wolke, die sich auftut und eine möglichst allmächtige Stimme, die sagt: „Du hast jetzt genug gelitten. Du bist raus aus meinem Schmerzspiel“. Aber diese Stimme ertönt niemals. Und das Leben ist nicht gerecht.
Heute, im Garten, traf ich zum ersten Mal einen ängstlichen Mann. Er hat diese Woche erfahren, dass er Lympfknotenkrebs hat. Und er fragt sich, wieviele Spiele er noch gewinnen kann. Und dann sagt er: „Wir müssen nochmal reden, bevor ich wieder ins Krankenhaus gehe“. Und sein Blick verliert sich. Das macht mir Angst.
Nach einer Weile sage ich in die Stille: „Lass uns zusammen die spanische Flagge hissen, einfach, um deine Gartennachbarn zu ärgern, bevor das Finalspiel beginnt“. Und er lacht mich an. Spitzbübisch. Und für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Genug Sekunden für ein Foto von einer spanischen Flagge, die mutig im Wind weht.
Neon!