Archiv der Kategorie: Außergewöhnliches

Palpatine vs. Vader

Ich sitze also gerade im TechnoGym Arm Extension Gerät des Körperertüchtigungsstudios meines Vertrauens und trage stolz mein jüngst erworbenes US-Wahlkampftshirt.
Während ich angestrengt und weitestgehend hoffnungslos versuche, meinen durch laxe Schlamperei in desaströser Auflösung befindlichen Trizeps durch allerlei Übungen, gutem Zureden und flehentlichem Bitten wieder auf eine nennenswerte Erscheinung zu bringen, spricht mich ein Schwarzer, an seinem Slang unschwer zu erkennender Amerikaner an, der schon eine Weile auf den Schriftzug meines Tshirts starrt.
„So who won?“, fragt der muskulöse Schwarze mit den durchdringenden Augen knapp und zeigt mit seinem Kinn auf meine Brust, während ich versuche, seine Intonation und Mimik zu deuten. Leider ist diese Ableitung alles andere als eindeutig und so bin ich mir nicht schlüssig, ob er es vielleicht als Anti-Obama, als Anti-Romney oder gar Anti-Star-Wars interpretiert und das Ganze in wenigen Sekunden auf eine unschöne körperliche Auseinandersetzung im bereits angeschwitzten Sportdress hinausläuft. Mein Neo-Cortex errechnet fortlaufend die Erfolgschancen der ein oder anderen Antwort und informiert mich aufgeregt über das vermeintlich beste Chance/Risiko-Verhältnis.
Natürlich könnte ich „It’s Anti-Politics!“ antworten, aber das wäre dann doch etwas billig. Da hilft also nur noch der gute alte Beratergrundsatz „Wenn du eine Frage nicht beantworten kannst, gib sie einfach zurück“. Auf jeden Fall bringt das erst mal kostbare Nachdenkzeit.
„If you tell me, who’s Vader and who’s Palpatine, I’m gonna tell you who won the election!“, antworte ich dem Amerikaner, der mich immer noch subjektiv bedrohlich anschaut. Ich merke, wie mein Gegenüber die Antwort zerlegt und analysiert, dann huscht ein zurückhaltendes Lächeln über sein Gesicht.
„I wish I knew, man. I wish I knew. Nice shirt!“, sagt der Hulk und macht sich auf den Weg in Richtung Chest Press. Mein Neo-Cortex entspannt sich wieder, dann denke ich weiter darüber nach. Wer ist Palpatine und wer Vader? Und ist der ganze Wahlzirkus nicht nur eine milliardenschwere Inszenierung von vermeintlichen Alternativen, die in Wahrheit keine sind und deren Protagonisten nur graduell heterogene Akteure des militärisch-industriellen Komplexes und seinen Zwängen und Interessen sind? Brot und Spiele für das Volk und die staunende Weltöffentlichkeit.
Mein Trizeps kapituliert im 3. Satz bedingungslos. Ich glaube, er will mir sagen, ich sollte im Fitti weniger Politik wälzen und mehr Eisen stemmen. Nächstes Mal.
Neon!

Fitchbitchwitch

Wo wir grad bei Bitches sind. Vorgestern Abend im Fitti. Gerade schwanke ich in der Vorbereitung der nächsten Geräteentscheidung zwischen ‚Chest Press‘ und ‚Total Abdominal Crunch‘, als eine dunkelblonde Mittdreißigerin an mir vorbeischwebt, die bei ihrer Genese unzweifelhaft aus dem gleichen DNA-Topf wie Pamela Anderson und Brigitte Bardot bedient wurde. Sie hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trägt dazu ein Jane Fonda Gedächtnis-Stirnband. Auf ihrem schwarzen Abercrombie-Shirt prangt in großen weißen Lettern „FITCH“ (wobei das F und das H ziemlich genau auch ihre markanten Brustspitzen markieren), darunter irgendein A&F Schriftzug, der jedoch aufgrund der D-Cups und der Tatsache, dass das Shirt mindestens 2 Größen zu klein ist, in einer nicht lesbaren konkaven Wölbung verschwindet.
Sie lächelt ein ‚Sprich-mich-ruhig-an‘ herüber. Herrje, ich liebe Pferdeschwänze! Ich weiß nicht warum, aber Frauen mit Pferdeschwanz gehen auf meiner persönlichen „Ich-könnt-mich-vom-Fleck-weg-in-Dich-verlieben-Skala“ von 0-10 Punkten sofort mit mindestens 3 Punkten an den Start. Na dann wollen wir mal. Ich lege meinen wirklich beeindruckenden John-Wayne Vorwärtsgang ein und entscheide mich für einen bewährten Erstkontaktblick, dessen pränatale Unschuld nur noch durch die überzeugende Demonstration eines rein-wissenschaftlichen Interesses an Körperwölbungen übertroffen wird. Es entwickelt sich folgende Konversation:
Neon: Hey, da muss man aber wirklich genau hinschauen, damit man da nichts Falsches liest.
Pam2: [irritiert] Was meinen Sie?
Neon: [starrt rein wissenschaftlich auf ihre Möpse] Na ich meine den Schriftzug. Wissen Sie, ich habe meine Lesebrille nicht auf.
Pam2: [lächelt] Ach so, na was glauben Sie denn, was da steht?
Neon: [schaut intensiv und rein wissenschaftlich auf Buchstabe ‚F‘] Also „Witch“ kann ich schon mal ausschließen!
Pam2: [verschmitzt] Oh danke, wie nett. Dann bleiben ja nicht mehr viele Möglichkeiten!
Neon: [schaut sich sicherheitshalber noch mal den ersten Buchstaben ganz genau an] Also entweder das T-Shirt ist von Abercrombie oder… [blickt kontrollierend in die Augen von Pam2]
Pam2: [lächelt ermutigend] Oder???
Neon: [setzt alles] …oder Sie würden gerne mit mir einen Espresso in der Lounge trinken.
Pam2: [lacht verwegen und lügt schamlos] Also ich glaube, von Abercrombie ist es nicht…
Neon: [freudig nonchalant] Da bin ich aber froh, dass ich nichts Falsches gesagt habe! Wie wollen Sie ihn?
Pam2: [initial verwirrt] Ach, Sie meinen den Espresso!? Heiß. Und stark. Bitte.
Neon: [löst sich widerwillig von Buchstabe ‚F‘] Gerne! Wollen wir!?
Abschließende Merksätze:

  1. Es ist nicht immer wichtig, gut zu sehen oder seine Lesebrille dabei zu haben.
  2. Offensichtlich steht nicht auf jedem Abercrombie-Shirt „Fitch“.
  3. Vorgetäuschte Sehschwächen sind sympathisch und verhelfen zu interessanten Gesprächen und tiefen Einblicken.

Neon!

42

Die Zeit fliegt. Sie saugt dich ein und spuckt dich aus und lässt dich ratlos stehen. Mehr als 2 Monate ist es her, dass er in meinen Händen starb. Nichts ist mehr so wie vorher, wenn dein Vater oder deine Mutter gegangen ist. Eine uralte, vertraute, unersetzliche Bindung ist zerstört – und niemals, niemals, niemals wird es sie wieder geben.
Und so stand ich also an diesem nasskalten Septembernachmittag in seinem verlassenen Garten, alleine, und sah, dass er auch hier fehlte. Äpfel lagen in Scharen am Boden, verfault, ungepflückt, so wie die Pflaumen, die danach schrien, geerntet zu werden. Und plötzlich strömten all diese Erinnerungen auf mich ein, all diese Momente, in denen wir redeten und lachten, und die sich nun schon so weit weg anfühlten. „Ich glaube, ich bin nicht mehr lange hier“, sagte er einmal zu mir im Schatten an der großen Hecke, kurz bevor er wieder ins Krankenhaus musste. Und wieder schnürt es mir die Kehle zu, als ich daran denke. Nichts kann man tun und nichts kann man ändern, wenn die Zeit gekommen ist.
Dein Leben hängt an einem seidenen Faden und es taumelt von einem Zufall in den nächsten. Nicht, dass man es nicht beeinflussen könnte: dein Leben ist absolut eine stringente, wohlaufgereihte Kette deiner Entscheidungen, die du minütlich, stündlich, täglich triffst. Aber am Ende des Tages gibt es einen Teil, den du nicht bestimmen kannst, diesen kleinen, überragend-wichtigen Teil, worein du geboren wirst, wen du in deinem Leben triffst, an welchen Krankheiten du erkrankst, welche Unfälle du hast, wieviele Stunden der Arbeitstag deines Arztes bereits hatte, bevor du in den OP kommst.
Es gibt Dinge, die liegen außerhalb deiner Entscheidungs- und Planungskompetenz. Bis dahin kannst du alles richtig gemacht haben, alle Entscheidungen für dich richtig getroffen haben, aber wenn dieser eine Punkt kommt, an dem deine Dispositionen keine Rolle mehr spielen, bist du schneller tot als du es dir je vorstellen konntest. Und verdammt, es ist nicht schön, zu realisieren, dass man nicht Herr des eigenen Masterplans ist.
All diese Dinge gingen mir im Kopf herum und schließlich konnte ich nicht gehen, ohne die mich anschreienden Äpfel und Pflaumen einzusammeln und so zum Zufall in ihrer Geschichte zu werden. Ich sammelte und sammelte, soviel ich tragen konnte, um dem frechen, unerbittlichen Zufall wenigstens ein bisschen entgegen zu setzen. Dann setzte ich mich auf die verwitterte Holzbank, die er vor Jahren selbst gebaut hatte, aß eine Handvoll der Pflaumen, rief mir sein Gesicht in Erinnerung und akzeptierte das Leben als das was es ist.
Neon!

Zauberhafter Pumpsverlust

Wenn man bereit ist und es zulässt, braucht es meist nicht viel, um den grauen, traurigen Seelenschleier wie einen morbiden Vorhang wegzuziehen und leichteren Fußes vom Hochsitz der dunklen Gedanken hinabzusteigen. Das Ereignis, das dies bewirkt, muss auch nicht immer der Situation entsprechend angemessen daherkommen.
Oft ist es etwas, das mein besonderes Interesse erregt, das meine Gedankenzüge ganz unerwartet auf neue Schienen setzt, etwas extremistisch Unalltägliches, etwas zauberhaft Absonderliches, etwas so unvergleichlich Merkwürdiges, dass es sofort alle Schichten der bleiernen Nabelschau wegsprengt.
Situative Bilder sind gute Kandidaten für einen solchen Befreiungsschlag. Hinzu kommt, dass ich Bilder liebe, die eine Geschichte andeuten, aber deren innere Ausgestaltung der eigenen Phantasie überlassen. Kürzlich, an einem Samstag, auf dem Weg zum Wald, hielt ich vor eben dieser Ampel. Irgendjemand war wohl nächtens seines sehr eleganten Pumps verlustig gegangen, eine andere Person hatte diesen gefunden und angesichts seiner unzweifelhaften Werthaltigkeit und zwecks romantischer Wiedervereinigung mit dem nun einsamen Single-Pumps an unbekanntem Aufenthaltsort auf diese Baustellenampel gestellt.
Naja, und wie ich so vor der roten Ampel wartete und darüber nachdachte,

  1. wie Herr Mahakala wohl in dieses Viertel gelangte,
  2. in welchem Zustand und bei welcher anrüchigen Tätigkeit er den Verlust des Pumps nicht bemerkte,
  3. und wie er einseitig barfüßig und frustriert ob des teuren Verlusts nach Hause stöckelte,

schlich sich erst langsam, dann schneller, ein Lächeln auf meine Lippen.
Das Leben ist einfach unberechenbar schön, so wunderbar unvorhersehbar und überraschend, dass man einfach keinen Tag verpassen sollte, nur weil man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Für diese wichtige Lektion gebührt Herrn Mahakala mein ausdrücklicher Dank! ;)
Neon!

Hochsitz der dunklen Gedanken

Das Leben fließt. Seltsam unbeteiligt gurgelt es in wilden Strudeln um mich herum. Es lacht, es liebt, es lebt, sprudelt in fremder Leichtigkeit. Ich schaue herab von dem Hochsitz, auf den der Tod mich getrieben hat. Wie Treibholz schwimmen die Menschen auf den schäumenden Wellen ihrer kumulierten Lebensaugenblicke und verdrängen jeden Gedanken an ihr Ende, so, als würde es für sie immer so weiter gehen. Und dann, wenn sie doch einen Moment das eigene Nachdenken zu sehr bedrängt, betäuben sie sich mit der uralten, klugen, dummen Illusion des ewigen Lebens im Zuckerwatteberuhigungsdenkmodell ihrer opiaten Wahlreligion.

„Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich – Scheidung und nähere Selbstverbindung zugleich. Durch den Tod wird die Reduktion vollendet.“ (Novalis: Blütenstaub, Fragment N r.14)

So sitze ich auf dem Hochsitz der dunklen Gedanken und versuche, die Bilder von der Aufbahrung aus meinem Kopf zu bekommen. Morgen will ich niederschreiben, dass ich verbrannt werden will, wenn einst mein eigenes Ende kommt. Nichts soll überbleiben und niemand soll erschreckt werden durch den desaströsen Prozess der optischen Entmenschlichung.
Seit ich nicht nur im Bestatterblog von den vielfältigen Stadien der Verwesung, der Selbstverdauung von Mägen, dem Festmahl eigener Bakterienstämme und der rapiden Verflüssigung von Zellgewebe gelesen habe, reifte die Entscheidung schnell, diesen unsäglichen Transformationsprozess für mich zeitlich effektiver zu gestalten. Ich frage mich, ob es nicht für jeden Menschen noch zeitlebens ein befreiendes Gefühl sein könnte und müsste, seinen eigenen gierigen, despektierlichen Mund- und Darmbakterien im Tod ein letztes Schnippchen zu schlagen und ihnen die vorauskalkulierte Selbstverdauung des eigenen Körpers durch geschickte Prozessänderung zu versagen. Nur eine von vielen Entscheidungen, die man besser selbst trifft.
Laut §4 Absatz 1 der „Ordnungsbehördlichen Verordnung über das Leichenwesen“ des Landes NRW muss jeder Tote innerhalb von 120 Stunden beigesetzt werden. Es ist bizarr, mit welcher Geschwindigkeit Angehörige Verstorbener zu den Fragen beflissener Bestatter verbindliche Entscheidungen treffen müssen, die sie doch eigentlich weit wegschieben möchten. Ich habe nie mit meinem Vater darüber gesprochen, welche seiner Kleidungsstücke er gerne im Sarg anhaben würde. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie ein Kranz zu gestalten sei, welche Blumen passend wären und welcher Schleifentext meine Gefühle am besten wiedergäbe. Soll der Kranz aufrecht stehen oder liegen? Soll ein Pfarrer oder Freiredner sprechen? Welche Musik soll gespielt werden? Nein, maximal 2 Stücke; das Ganze muss in 30 Minuten vorbei sein, dann steht die nächste Leiche bereit. Die deutsche Körperentsorgung ist straff organisiert und gut durchgetaktet.
„10 Jahre zu früh!“, sagt meine gefasst wirkende Mutter zu jedem, der ihr am Grab kondoliert. Es wirkt auf mich seltsam distanziert und rational analysierend – aber jeder Mensch trauert anders. Ich schaue jedem fest in die Augen, der meine Hand ergreift. Manche Augen schauen sehr traurig, manche wollen Mut spenden mit einem kleinen Lächeln zu einem festen Händedruck, manche bemühen sich vergeblich um einen zutiefst betroffenen Gesichtsausdruck.
Am Abend stehe ich alleine vor dem aufgeworfenen Grab, richte die Kränze und zupfe an den Schleifen. Ja, ich werde präzise aufschreiben, wie ich es mir vorstelle, werde alle Entscheidungen vorwegnehmen und keine Fragen offen lassen. Und dann ist wieder Zeit zu lachen, zu leben und zu lieben.
Neon!

Maschinenzwischenwelt

Es ist etwa vier, als ich meine Hände desinfiziere, durch die Besucherschleuse der Intensivstation trete und eintauche in die Andersartigkeit der Maschinenzwischenwelt. Beharrlich und nie erlahmend vermisst sie das Restleben der ihr anvertrauten Körper und gibt Alarm, wenn einer die Zwischenwelt verlassen will.
Meine Gedanken kreisen noch sehr um die Abizeugnisausgabe vom kleinen Neon. Stolz, Freude, Lachen, Abschied, Tränen, Aufbruch zu neuen Zielen. Und nun stehe ich hier, am Bett meines Vaters, und mein Magen verkrampft angesichts der Anzahl von Schläuchen und Maschinen, die in seinem Körper enden. Jedesmal werden es mehr. Mehr Schläuche, mehr Maschinen – nur die Hoffnung, die wird immer weniger.
Freude und Schmerz. Stolz und Angst. Umarmen und Loslassen. Es ist nicht so, dass ich in meinem Leben nicht bereits eine gewisse Bandbreite an emotionalen Erfahrungen gemacht hätte. Doch Freude und Schmerz so nah beieinander, das ist neu. Und mehr, als ich im Moment gebrauchen kann.
Flink, gewandt und wortlos steckt die Schwester Kanüle um, hängt neue Beutel auf, führt Schlauchenden in gekapselte Körperöffnungen, notiert Messwerte, die sie von den Monitoren abliest. Mein Vater ist nicht bei Bewußtsein. „Ja, er wird noch sediert. Wegen der Intubation, wissen Sie?“, sagt die Schwester, während mein Blick auf dem dickeren Schlauch ruht, der in seinem Hals verschwindet.
Ruhig spricht sie über die septische Einschwemmung, die noch ansteigenden Entzündungswerte, den Verlauf der 4. Krebs-OP, die doppelläufigen Stoma und die Bluttransfusionen. Mein Blick fällt durch die Glaswand ins Nebenzimmer. Eine junge Frau liegt apathisch, mit offenem Mund und angsterfüllten Augen in ihrem Bett. Ein kleiner Teddy liegt neben ihrem Kopf, ihr Freund hält ihre Hand, spricht leise mit ihr. Ich wende meinen Kopf weg, weil ich die Intimität dieses Moments nicht verletzen will.
Von irgendwo dringt gedämpfter Jubel. Der Kopf einer Schwester taucht im Türkreuz auf: „Deutschland führt 1:0 gegen England“, flüstert sie ihrer Kollegin in den Raum. Sie nickt verstehend, während sie Salbe auf die Lippen und in die Augen meines Vaters streicht. Es scheint, der Tod hat sein Spiel nur ein paar Wochen unterbrochen. Der Krebs ist nicht mehr aufzuhalten, hat nun keinen Gegner mehr.
„Konnten Sie heute schon mit der Ärztin sprechen?“, sagt die Schwester. Ich schüttele leicht meinen Kopf. „Wir müssen wahrscheinlich Mitte der Woche einen Luftröhrenschnitt machen – wegen der weiteren Intubation, wissen Sie? Könnten Sie das bitte mit Ihrer Mutter besprechen, wegen des OKs?“.
Von draußen strömt erneut leiser Jubel in das Zimmer. Deutschland führt 2:0. Er hatte sich so auf dieses Spiel gefreut. Nicht mal das ist ihm gegönnt. „Können Sie uns nun ein paar Minuten alleine lassen?“, sage ich in die Stille. Die Schwester nickt. Es ist Zeit geworden, ihm für so unendlich Vieles zu danken. Ich bin sicher, er hört meine Worte.
Neon!

Wie Herr Neon Liebe stiftet

Es ist meine Bestimmung, Liebe zu stiften. Das weiß ich jetzt ganz sicher. An diesem Wochenende traf mich diese angenehme Selbsterkenntnis wie ein Keulenschlag. Wie so oft schlendere ich mit meinem Kampf-Labbi der Chuck-Norris-Klasse entlang einer geteerten Straße auf dem Weg in die Rheinwiesen, als ich einer suizidären Weinbergschnecke gewahr werde, welche sich, die tödliche Gefahr grob fahrlässig ignorierend, bereits 30cm zur heroischen Überquerung des breiten Asphalts aufgemacht hat.
Mit freundlichem Gruß übersteige ich das Tier und sympathisiere zunächst still mit dessen Beispiel gebender Risikotoleranz und Zielstrebigkeit. Und doch lässt mich das Ergebnis ihrer parallel errechneten Überlebenswahrscheinlichkeit abrupt innehalten. Das nächste Auto wird Schnecke samt aufliegendem Eigenheim pulverisieren und dabei Geräusche machen, die ich noch 500m weiter mit Abscheu würde vernehmen müssen.
„Leben sollst du!“, sage ich – etwas theatralisch – zur Schnecke gewandt und lasse sie wie ein Zeppelin an meinen Fingern zur anderen Straßenseite gleiten. Nach der sicheren Landung höre ich sie das erste Mal erleichtert seufzen.
Ich pfeife nach Chuck Norris, der sich gerade mit Brennnesseln die Nasenlöcher reinigt und setze den Weg fort. 20m weiter treffen wir überraschend auf die nächste Schnecke. „Single?“, frage ich die Schnecke. Sie nickt unmerklich. „Ich hab da vielleicht was für dich“, zwinkere ich Schnecke-2 zu, klemme ihr Schneckenhaus für den Zeppelinflug zwischen Daumen und Zeigefinger, laufe 20m zurück und setze sie direkt neben Schnecke-1 ab. Beide seufzen erleichtert und schauen dankbar. Ich fühle mich gut.
Während ich nachhaltige Beziehungen stifte, übt Chuck Norris gerade Tauchen in einem verschlammten Abwasserfluss. Leider wird dafür kein Zeppelin kommen, ihn aus dem dickschwarzen Matsch heben und mit ihm durch eine vollautomatische Waschstraße (inkl. Trockengebläse) fliegen. Egal, wenn man an einem Tag zwei Schnecken glücklich gemacht hat, kann einen das auch nicht mehr runterziehen.
Neon!

Zerwürfnis mit dem Tod

Es dämmert bereits. Die beginnende Dunkelheit drängt mich zur Eile. Unruhig und hastig laufe ich über den Weg zum Hauptportal des Krankenhauses, stürze die Treppen hinauf, lasse endlich meine flache Hand auf den Türbuzzer knallen bis sich die Stimme meldet. „Es ist schon spät…“, sagt sie, und dann, nach einem Zögern, „Gut, kommen sie herein!“. Nach 19:00 Uhr sind Besucher auf der Intensivstation grundsätzlich nicht gern gesehen. Ich kann das verstehen.
„Ihr Vater liegt jetzt dort drüben“, flüstert die indische Krankenschwester. Ihre Stimme klingt seltsam reduziert und gepresst, so wie wenn man sich in einer Aufbahrungshalle etwas zuflüstern würde, wenn man vermeiden will, dass andere Anwesende, tot oder lebendig, es hören könnten. „Danke, dass Sie mich noch hereingelassen haben“, sage ich. Sie lächelt kurz. Das Licht ist schon heruntergedimmt. Es ist nun Schlafens- und Sterbenszeit in den Zimmern entlang der beiden Flure.
Rechts und links vom Bett stehen Batterien von Maschinen, Computern, Monitoren. Dutzende von Informationen und Signalen, die vergeblich nach meiner Aufmerksamkeit schreien. Ruhig und gleichmäßig rotiert die Blutpumpe des Dialysegeräts. „Wusstest du, dass zwei Beutel der Dialyseflüssigkeit 150 Euro kosten?“, sagt mein Vater leise, als erfülle es ihn mit einem gewissen Stolz, dass die Krankenkasse dies nach allem noch für ihn bezahlt. Ich beuge mich über das Bett und greife für ihn nach dem Trinkbecher. Als ich mich wieder aufrichte, sitzt er plötzlich da, am Fußende, schwarz, unbeweglich, abwartend. Ich spüre, dass er mich anschaut, aber ich kann seine Augen nicht sehen. Ein kalter Hauch schlängelt sich durchs Zimmer und umfließt gierig meine Beine.
„Weißt du, wer ich bin?“, sagt eine schneidende Stimme. „Ja. Du bist der, der alle gleich macht…“, antworte ich, „…aber du kommst zu früh! Weder er noch ich werden heute mit dir gehen“. „Ich komme meist ungelegen und bin selten willkommen.“, gibt die Stimme trocken zurück.
„Ich habe nichts gegen dich, jedes Leben hat dich fest gebucht, und es ist gut so. Doch sind deine Methoden oft zu fragwürdig und grausam als dass ich dich wirklich sympathisch finden könnte.“, antworte ich in Richtung des schwarzen Umhangs.
„Seit Tausenden von Jahren bin ich dazu verdammt, immer das Gleiche zu tun – findest du nicht, dass ich es verdiene, ein wenig Abwechslung in meine Arbeit zu bringen?“. Für eine Sekunde sehe ich eine skeletierte Hand unwirsch durch die Luft kreisen. „Mit Verlaub, du bist ein Arschloch“, entgegne ich dem zynischen Mann am Bettende, der einst ein gerechter Tod sein wollte.
Ich höre ein wütendes Keuchen und danach ein zischendes Geräusch die Luft durchschneiden. Direkt vor meinen Augen stoppt die blitzende, rasiermesserscharfe Klinge der Sense des Mannes, den man besser nicht wütend macht. „Nicht heute, nicht morgen, nicht dieses Jahr. Nicht er, nicht ich, niemand in unserer Familie, und das ist mein letztes Wort!“, sage ich bestimmt und etwas zu laut.
„Du bist mutig…“, sagt der Tod, der nun ein gelangweilter, zynischer Mann war. „…und die Mutigen sterben meist am ehesten, weil sie sich überschätzen.“. Im Vorbeigehen streicht sein knochiger Finger über meinen eisigen Nacken. Mit einem Ruck zieht er die Sense zurück. „Wir sehen uns“, zischt er noch, dann ist er plötzlich verschwunden.
„Ja, wir sehen uns…“, flüstere ich ihm hinterher, „aber heute nicht mehr“. Die Blutpumpe zieht langsam ihre Kreise. Puls und Blutdruck zeigen normale Werte. Er schläft.
Neon!

Geheimnisvolle Baumbotschaften

Seltsame Dinge passieren entlang meiner Laufstrecke im Wald. Über Nacht hat jemand geheimnisvolle Botschaften an einigen Bäumen befestigt und mutwillig in Kauf genommen, dass sie mich in tiefes Nachdenken stürzen.
Sind die Nachrichten vielleicht an mich gerichtet? Wer will mich damit zum Bleiben auffordern? Ist es eine alte Liebe aus dem Süden, die mit dem Baumpfahl winkt mir sanfte Zeichen gibt? Ist es mein staatsbeflissener, ewig gieriger Finanzbeamter, der mit subtilen Wegschildern meine abenteuerlichen Auswanderungsgedanken schon im Keim ersticken will? Hat meine Friseurin Sandra einen außergewöhnlichen Versuch der kreativen Kundenbindung in die Tat umgesetzt? Oder möchte mich mein KFZ-Versicherer AXA zurückhaben, nachdem ich ihm kaltlächelnd im November gekündigt habe?
Haben diese sich vielleicht alle zu einer subversiven Gruppe verbündet, um mich mit dieser frontalen Gehirnwäsche mental weich zu klopfen? Was wird sich diese verschworene Viererbande noch einfallen lassen, um mich ihnen schließlich gefügig zu machen? Erschauernd stoppe ich im Lauf, gehe unverdächtig weiter und schaue nervös hinter mich. Bestimmt steht mein Finanzbeamter gut getarnt hinter irgendeinem Strauch und filmt alles für die anderen Verschwörer.
Dann fällt mein Blick auf die letzten beiden Baumnachrichten: „Dich anzuflehen, bei mir zu bleiben“ und „Bis zur Unendlichkeit und zurück“. Hm, klingt so gar nicht nach meinem persönlichen Finanzamtstaliban. Zuviel Gefühl.
Ich atme auf. Ich fühle mich erleichtert. Und auch wieder nicht. Ein verlassener Mensch hat sich entschält, entblößt und den Blick in sein verletztes, liebendes Innerstes freigegeben. Gerne würde ich diesen verzweifelten Menschen treffen, um ihn mit meinen Händen kräftig zu schütteln und ihm Mut zuzusprechen. Niemand sollte jemals einen anderen Menschen um Liebe anflehen, möchte ich dem geheimnisvollen Botschaftenkleber sagen. „Menschen kommen, Menschen gehen, und du kannst sie nicht festhalten“, sagte meine Mutter immer. Und „Sei dankbar für die Zeit, in denen dein Weg der gleiche ist“. Und vielleicht, mit viel Glück, wird der Weg ein sehr langer.
Neon!